Nach einiger Zeit im Camp, teilte man uns mit, dass wir Schwedt, eine Stadt in Brandenburg, besuchen würden und dass wir zehn Tage lang dort in Gastfamilien leben würden. Wir reisten mit dem Zug nach Schwedt. Es war meine erste Reise mit dem Zug. Wir teilten uns den Waggon mit vielen anderen Leuten. Da ich aber mit zahlreichen Freunden aus dem Camp unterwegs war, fühlte ich mich nicht verloren. Wir waren eine gemischte Gruppe aus Deutschen, Koreanern, Franzosen und Kubanern. Selbst meine Landsleute waren viel ruhiger und sanfter drauf, als sonst. Glücklicherweise hatte ich einen Platz am Fenster. Die meiste Zeit der Zugfahrt verbrachte ich damit die Landschaft draußen zu beobachten. Sie erinnerte mich an Szenen aus Filmen. Es war sehr friedlich. Wir fuhren durch weite Felder mit Kühen und anderem Vieh. Obwohl ich ein Fremder in diesem Land war, fühlte ich mich sicher und wie zu Hause.
Meine Gastfamilie hieß Schnabel: Es gab den Vater Albert, die Mutter Renate und ihren Sohn Tom. Meine deutsche Familie war unfraglich nett und gutherzig. Ich teilte mir den Schlafzimmer mit meinem weißen Bruder Tom. Keine von ihnen sprach englisch, also kommunizierten wir mithilfe eines Englisch-Deutsch Wörterbuchs. Bei all unseren täglichen Unternehmungen schenkten mir meine Gasteltern absolute Aufmerksamkeit, noch mehr, als ihrem eigentlichen Sohn Tom.
Meine Gastmutter nahm mich überall hin mit, sogar zu ihren Verwandten. Sie sagte ihnen, sie hätte jetzt einen schwarzen Sohn. Sie war stolz auf mich. Sie wollte, dass ich stets meine traditionelle Kleidung trug, wenn wir gemeinsam in die Stadt gingen. Sie sagte mir, ich solle stolz auf meine Kultur sein. Mein Gastvater besuchte mit mir verschiedene Parks und Hotels. Tom und ich verbrachten auch sehr viel Zeit miteinander. Allesamt waren sie sehr darauf bedacht all meinen Bedürfnissen nachzukommen. Am Abend meiner Abreise waren wir alle sehr traurig. Sie kauften mir Kleidung, ein Radio, eine Kamera und einige andere Dinge.
In Schwedt gab es eine Veranstaltung für alle Menschen aus der Umgebung. Wir führten traditionelle Lieder und Tänze aus anderen Ländern auf. Nach meiner Rückkehr nach Äthiopien, schickten mir meine Freunde einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel über meine künstlerische Darbietung - sogar mit Foto.
Berlin oder vielmehr Ostberlin war die Hauptstadt der DDR. Es war bekanntermaßen das Zentrum der Macht, das Rampenlicht des kulturellen Lebens und Schaukasten des Sozialismus. In der "Versorgungs-Hierarchie" stand Berlin auf Platz eins. Das wurde deutlich wenn es um den Wohnungsmarkt oder technische Anbindung ging, wie Telefone in Wohnungen, aber vor allem war die Versorgung mit Komsumgütern deutlich besser, als anderen DDR-Städten. Außerdem hatten die Bewohner Berlins besseren Zugang zu bestimmten produkten, wie Honig oder Einwegwindeln. Aufgrund dieser besonders guten Versorgungslage, war es üblich, dass beispielsweise Bürger aus Sachsen oder Thüringen sich an Samstagen ins Auto oder den Zug setzten und nach Ostberlin reisten, um dort einkaufen zu gehen.
In Berlin besuchten wir das Deutsche Historische Museum. Darin ging es um den Zweiten Weltkrieg. Wir sahen außerdem den Fernsehturm und einige Parks - die Aussicht vom Turm war fantastisch. Ich sah elektrische Busse [vermutlich sah Shimelis Straßenbahnen, Anm. d. Red.], Straßenmusiker und Parks, Aufzüge, die dabei halfen riesige Gebäude zu erklimmen, Märkte und viele andere Dinge. An einer Stelle entdeckten wir einen Straßenmusiker, der Musik auf einer Gitarre spielte. Ich hatte noch nie zuvor solche Musik gehört, fand sie aber schön. Es gab ein kleines Publikum, das zuhörte. Nachdem er sein Lied beendet hatte, sagte er etwas, das keiner von uns verstand. Einige der Leute warfen Geld in einen Hut, der auf dem Boden lag. Er lächelte jeden an und spielte dann ein neues Lied. Ich hatte noch nie so ein Schauspiel beobachten können, aber ich genoss es. Danach besuchten wir ein Pflegeheim. Ich verbrachte einige Zeit mit einer alten Frau im Rollstuhl. Sie war sehr nett und wir hatten eine gute Zeit dort.
Ich erinnere mich danran, dass wir sogar an einen Ort nahe der Mauer gebracht wurden. Es war einfach enttäuschend zu sehen, dass Menschen derselben Nation aufgrund politischer Ideologien zweigeteilt wurden. Wir sahen die strenge militärische Absicherung vor Ort.
Zum Abschluss besuchten wir noch einige alte Gebäude und eine kleine Stadt namens Altenhof.
Fortsetzung folgt...
Text: Shimelis Haile Aga