Meine äthiopischen Landsleute und ich teilten uns einen Schlafsaal mit den ungarischen Jungs. Diese waren nett und unkompliziert. Einziges Problem war die Sprachbarriere. Keinen von ihnen konnte Englisch sprechen. Also kommunizierten wir mit Händen und Füßen miteinander. Mein äthiopischer Freund war recht streng und aggresiv gegenüber allen Weißen. Jedes Mal, wenn die Jungs ungarisch sprachen und während ihrer Unterhaltung lachten, war er voller Argwohn.
Im Lager gab es keine Einzelbadezimmer, so wie ich es von zu Hause kannte. In Äthiopien waren solche Dinge sehr intim und niemand wagte es jemand anderes außerhalb der Familie splitterfasernackt zu sehen. Es war beschämend in der Gruppe mit den anderen weißen Jungs zu duschen. Überraschenderweise waren die meisten von ihnen gar nicht beschnitten.
Am nächsten Morgen weckte Susanne mich. Sie trug ein blaues T-Shirt und ein Halstuch, wie es die sozialistische Jugend trug. Sie weckte auch meinen äthiopischen Freund, aber der regte sich nicht. Sie lächelte und blieb zurückhaltend, egal wie unsere Reaktion war. Jeden Morgen bliesen die Trompeten. Klassische Musik dröhnte durch die Lautsprecher, die an jeder Ecke des Korridors angebracht waren. Nachdem wir unsere morgendliche Routine abgeschlossen hatten, wurde uns aufgetragen die traditionellen äthiopischen Gewänder anzuziehen, diese waren von oben bis unten vollkommen weiß. Danach wurden wir in den Essenssaal gebracht. Jeder starrte uns mit großer Verwunderung an. Einige Leute wollten Fotos mit uns machen. Ich fühlte mich wie ein Star. In Äthiopien war ich allen einfach egal. Aber in der DDR wurde ich mit einem Mal zu einer Person öffentlichen Interesses und stand im Mittelpunkt.
Die Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" war das Vorzeigeferienlager der DDR. Benannt nach dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, wurde es nach dem Vorbild des sowjetischen Allunions-Pionierlager Artek erbaut. Die Pionierrepublik wurde 1952 in Altenhof, nahe Berlin, eröffnet. Im Lager konnten 1.000 Kinder wohnen.
Die meisten der internationalen Kinder wurden in den Monaten Juli und August eingeladen. Unter ihnen waren auch Kinder aus westlichen Ländern, die das sozialistische Leben in der DDR kennenlernen sollten. Einzige Bedingung, die an die Kinder gestellt wurden, waren erstklassige Schulnoten.
Für gewöhnlich war der Tagesablauf im Lager klar geregelt: Morgens gab es Unterrichtsstunden mit den besten Lehrern der gesamten Republik, danach Mittagessen und gemeinsame Hausaufgaben. Am Nachmittag probten die Kinder internationale Lieder der Arbeiterklasse und diskutierten die politische Situation. Am Abend schauten alle gemeinsam die täglichen Nachrichten im Fernsehen, die "Aktuelle Kamera". Zusätzlichen wurden die Pioniere dazu angehalten ihre täglichen Erfahrungen in einem Tagebuch festzuhalten.
Der Saal war voll mit großen Tischen, an denen jeweils zwölf Leute sitzen konnten. Auf jedem Tisch standen die Namen verschiedener Länder. Ich saß an einem Tisch mit Susanne, Coni, unserem Leiter und vier äthiopischen Jungen und Mädchen. Das war wie am Essenstisch mit der Familie. Die Stühle waren bequem und alles war aufgeräumt. Die Delegationen der verschiedenen Länder aus allen Ecken der Welt saßen bereits an ihren Tischen. Als das Essen serviert wurde, gab es sehr viele unterschiedliche Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Vielfalt überforderte mich. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Essen gesehen. Ich versuchte wenigstens ein oder zwei mir vertraute Dinge zu finden. Erneut fühlte ich mich wie ein Fremder, aber Coni war immer für mich da und verstand, wie ich mich fühlte. Sie gab mir einen kurzen Überblick. Dann half sie mir etwas für mein Frühstück auszuwählen.
Fortsetzung folgt...
Text: Shimelis Haile Aga