In Äthiopien ist es verboten in der Öffentlichkeit eine andere Person auf die Lippen zu küssen. Selbst verheiratete Paare dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht küssen. Bevor ich in die DDR kam, hätte ich es mir nicht träumen lassen ein Mädchen zu küssen. In meiner Kultur ist das etwas ungewöhnliches. Ich erinnere mich noch an eine Zeit im Waisencamp, als wir sehr klein waren und Filme schauten. Immer wenn die Hauptdarsteller sich mittem im Film küssten, drehten sich alle von uns weg, um nicht hinzuschauen. Wir waren alle etwas befangen, aufgrund der gesellschaftlichen Umstände. In der DDR war das ein wenig anders. Niemanden kümmerte es. Ich sah Coni und Susanne, wie sie ihre Freunde in unserer Gegenwart küssten. Ich war beschämt von ihrem Verhalten zu dieser Zeit.
Katja war ein zwölfjähriges deutschces Mädchen mit blonden Haaren und einem Dauergrinsen auf ihren Lippen. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie einen Teddybär. Sie kam auf mich zu und sagte etwas auf deutsch. Auf einmal lächelte sie, legte den Kopf in den Nacken und streckte sich in Richtung meiner Lippen. Sie küsste mich auf meine Lippen, während meine äthiopischen Freunde diesem Schauspiel zuschauten. Mein gazer Körper zitterte vor Schock und ich begann zu schwitzen. Sie küsste mich nocheinmal, während ich vor lauter Verwirrung wie paralysiert war. Meine Gefolgsleute drehten sich weg und taten so, als hätten sie nichts gesehen.
Nach diesem Tag hatte ich viele schöne Momente mit Katja. Wir liebten es gemeinsam Fußball zu spielen, spazieren zu gehen und andere Dinge. Händchenhalten und küssen wurde zu einer ganz normalen Sache zwischen uns, allerdings liefen wir immer weg von den anderen, um Zeit miteinander zu verbringen. Selbst die Sprachbarriere war kein Problem. Wir sprachen mit Händen, Füßen und Grimassen um zu kommunizieren.
Bis zum Beginn der 70er Jahre war Sex auch in der DDR ein Tabuthema. Während die Jugend im Westen Deutschlands ihrem Unmut in der 1968er-Bewegung lautstark Luft verschaffte, lief die sexuelle Revolution in der DDR stiller, aber nicht minder tiefgreifend ab. Die DEFA begann Sexszenen in ihre Filme einzubauen, Prof. Borrmann beantwortete Fragen Heranwachsender im Magazin "Neues Leben" und auch in Sommerlagern wurde das Händchenhalten und Küssen in der Öffentlichkeit bald zur Normalität.
Zum Thema Sexualität und FKK empfehlen wir die "Frag Dr. Wolle"-Episode "Republik der Nackten": https://www.youtube.com/watch?v=Fcwxy6t3lt0
Zu dieser Zeit wussten viele Äthiopier meines Alters so gut wie gar nichts über das andere Geschlecht. Heute geht der Trend in eine andere Richtung und die Jugend ist etwas scheller. Meine Beziehgung mit diesem deutschen Mädchen ging jedoch nie weiter, als das gemeinsame Zeit Verbringen. Während der Mahlzeiten und anderer Programmpunkte suchten die Delegationen von Äthiopien und Deutschland uns oftmals überall. Sie wussten, dass wir immer Zeit miteinander verbrachten und das weit weg von unserer Unterkunft. Alle meine äthiopischen Freunde lachten mich aus, weil ich einen so ungewöhnlichen Kontakt zu diesem Mädchen pflegte. Einer der Jungs drohte mir sogar damit die Geschichte zu Hause zu erzählen. Mir war bewusst, dass ich arge Probleme hätte bekommen können, aber das war mir egal. Ich begann mehr Zeit mit den Kindern der anderern Delegationen zu verbringen, vor allem den Deutschen.
In nur einer Woche hatte ich Menschen unterschiedlichster Kulturen und Länder getroffen. Ich erlebte zahlreiche Premieren, wie zum Beispiel das Fahren in einem mittelgroßen Boot. Wir machten Lagerfeuer und Disconächte im Wald in der Umgebung des Camps. Es gab sogar einen Sporttag, an dem hunderte von uns gegeneinander antraten. Es war aufregend mit Freunden bei all diesen Veranstaltungen dabei zu sein.
Eines Tages spielten wir "Hochzeit" in unserer Unterkunft. Meine Braut war ein gleichaltriges Mädchen aus Ungarn. Wir wurden kurz darin unterrichtet, wie die Zeremonie ablaufen und wie wir uns mit unserem Partner dabei verhalten sollten. Es gab sogar Plasteringe und Blumen. Nach der Zeremonie wurde gefeiert. Ich erinnere mich noch, dass das Lied der Eröffnung "I love you more than I can say" war.
28 Jahre später konnte ich meine ehemalige Braut über Facebook wiederfinden. Rena’ta Christina Ludman ist heute mit ihrer alten Jugendliebe verheiratet und lebt glücklich in der ungarischen Stadt Nyíregyháza. Wir schicken uns regelmäßig Geschenke an Feiertagen zu und halten uns gegenseitig mit Nachrichten auf dem Laufenden. Dank der Technik sind wir immer noch Bruder und Schwester.
Fortsetzung folgt...
Text: Shimelis Haile Aga