Eine Woche vor der Abreise wurden wir in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba geschickt. Wir kannten die Stadt bereits von revolutionären Festakten. Fast alle der Kinder im Camp hatten schon an diesen Veranstaltungen teilgenommen. Bei diesen Feierlichkeiten führten wir revolutionäre Lieder, Turnen und andere artistische Darbietungen auf, die allesamt den Sozialismus und die Militärregierung würdigten. Die Revolution und dessen Führer wurden dabei stets glorifiziert.
In Addis Abeba wurden wir darin unterrichtet uns an den völlig andersgearteten Lebensstil, der uns erwarten würde, anzupassen, wie beispielsweise mit Besteck zu essen. Äthiopische Gerichte werden mit bloßen Händen gegegssen und wir hatten keine Ahnung wie wir mit diesen "Hilfsmitteln" umgehen sollten. Wir erhielten außerdem traditionelle Kleidung, die wir in Deutschland präsentieren sollten. Ich hatte nach wie vor Angst vor den Deutschen. Alles war verwirrend und ich fühlte mich wie ein Gefangener, der ins Gefängnis geschickt wurde.
Ich war 14, als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Flugzeug betrat. Es war eine riesige Boeing mit der Aufschrift "Interflug" auf beiden Seiten. Als die lächelnde Stewardess uns wärmstens willkommen hieß, war ich überrascht und geschockt zugleich. Ich dachte bei mir: "Sie muss Deutsche sein", und "wie konnte eine rassistische Deutsche Frau einen schwarzen Jungen so freundlich willkommen heißen?" Ich dachte, sie mache sich lustig.
Der mir zugeteilte Sitzplatz war in der Nähe des Flügels. Bevor das Flugzeug abhob wurden wir aufgefordert uns anzuschnallen, aber ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Die Leute aus meiner Gruppe und einige andere Äthiopier saßen ganz woanders. Ich konnte sie also nicht um Hilfe bitte. Ich war so frustriert, dass ich fast anfing zu weinen. Ich verstand einfach nicht, was passierte. Alles war mir fremd.
Plötzlich näherte sich die Stewardess, die uns willkommen geheißen hatte, um mir zu helfen. Für mich war sie die einzige unschuldige und freundliche Deutsche unter Millionen von Deutschen. Ich erinnere mich an ihr kurzes blondes Haar, ihre feine weiße Haut und ihre hervorstechende Nase. Obwohl sie mir ihr wärmstes Lächeln schenkte, konnte ich dieses nicht erwiedern. Während ich zögerte, kam sie näher, sagte etwas, das ich nicht verstand, und zeigte mir, wie man sich mit dem Gurt anschnallte. Das hier war der Beweis dafür, dass es mindestens eine, bescheidene, freundliche Deutsche auf dieser Erde gab. Was den Rest anbelangte war ich mir allerdings nicht sicher.
Als das Flugzeug über den Wolken schwebte, hatte ich das Gefühl die Sonne, den Mond und alle Sterne greifen zu können. In meinem Kopf schwirrten hunderte Fragen umher. Durch das kleine runde Fenster konnte ich die Tragfläche des Flugzeugs sehen. Die Gemütlichkeit ließ mich nach einiger Zeit schließlich einschlafen.
In den 1950er Jahren wuchs der Bedarf für Personenflüge auf der ganzen Welt. Das wirkte sich auch auf die DDR aus und so wurde die erste Fluglinie der DDR geschaffen und 1955 die "Deutsche Lufthansa" gegründet. Am 16. September hob die erste Maschine der Lufthansa in Richtung Moskau ab.
Allerdings hatte nicht nur die DDR eine Fluglinie mit dem namen "Lufthansa", sondern auch die Bundesrepublik im Westen. Um einen Rechtstreit zu vermeiden, erschuf die DDR 1958 eine weitere Fluglinie, die "Interflug Gesellschaft für internationalen Flugverkehr mit beschränkter Haftung". 1963 liquidierte sie ihre "Lufthansa" und behielt die Interflug als die offizielle Fluglinie des Staates. Durch ein ständig wachsendes Netzwerk an Flugrouten wuchs die Bedeutung der Interflug innerhalb der DDR stetig. Zunächst wurde das Streckennetz in Richtung des Ostblocks, später dann Richtung Asien und Afrika ausgeweitet.
Als ich erwachte, stand die freundliche Stewardess neben mir. Dieses Mal konnte ich einfach nicht anders, als sie anzulächeln. Sie schob einen Servierwagen, der voll mit Essen und Getränken war. Dank meiner Englischkenntnisse, wenngleich diese eingeschränkt waren, konnte ich ihr mitteilen, was ich gern davon hätte. Da ich jedoch keines der angebotenen Dinge kannte, wählte sie mir etwas davon aus.
Als sie nach ihrer Runde zu mir zurück kam, war ich bitterlich am Weinen. Sie war verwirrt und fragte, was mit mir los sei. Ich zeigte ihr den Plastikbecher, der in meiner Hand zerbrochen war, nachdem ich den Saft darin ausgetrunken hatte. Sie konnte nicht anders, als zu lachen. Schließlich erzählte sie mir, dass Plaste für den einmaligen Gebrauch hergestellt und danach weggeworfen würde.
Wir erreichten Berlin in der Abenddämmerung.
Endlich war ich in der DDR.
Fortsetzung folgt...
Text: Shimelis Haile Aga
History Box: Lisa Laubner, Elke Sieber
Redaktion: Michael Geithner, Lisa Laubner