Gelesen

Christoph Boyer: Sozialistische Sozialpolitik und Gesellschaftsreform in den sechziger Jahren: DDR und CSSR im Vergleich

Boyer befasst sich in seinem Aufsatz mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der DDR. Dabei legt er den Schwerpunkt auf den Vergleich der Entwicklungen in der CSSR und der DDR bei den Reformen der 60er Jahre. (02.03.2017)

Christoph Boyer: Sozialistische Sozialpolitik und Gesellschaftsreform in den sechziger Jahren: DDR und CSSR im Vergleich, in: Aufbruch in die Zukunft. Die 60er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. Die DDR und die CSSR im Vergleich, hrsg. v. Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate, Göttingen 2004, S. 249-265.

Christoph Boyer ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Salzburg. Seine Schwerpunkte liegen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der ostmitteleuropäischen Länder.

Boyer befasst sich in seinem Aufsatz zur Sozialpolitik in der DDR mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der Tschechoslowakei und der DDR, insbesondere in den 1960er Jahren. Dabei geht er von der Grundthese aus, dass der Staatssozialismus im Laufe seiner Existenz durchaus einem Wandel unterlag. Er begann mit der enthusiastischen und durch Terror durchzusetzen versuchten neuen Welt, war in den 60er Jahren durch Reformen geprägt und ging schließlich über in den „Realsozialismus“ oder die „Normalisierung“. Hierbei stand die Beschwichtigung der Bevölkerung durch bessere Konsummöglichkeiten und vielerlei Sozialleistungen im Mittelpunkt, um dadurch die Macht zu sichern und zu erhalten.

Er geht davon aus, dass die Staatssozialismen nicht grundsätzlich eine Fehlkonstruktion waren, die zum Verfall führen musste, sondern begrenzte Möglichkeiten durch ihren Wandel hinsichtlich des Überlebens durchaus bestanden.

Sowohl die DDR als auch die CSSR hatten eine weitreichende industrielle Tradition, welche die Existenz von alteingesessenen Arbeiterklassen bedingte sowie im Vergleich zu anderen Ostblockländern ein hohes sozialökonomisches Entwicklungsniveau.

Die Systeme waren außerdem geprägt von der Leitidee der allseitigen Kontrolle durch die politischen Institutionen. Ressourcen wurden von der Regierung kontrolliert und zu Verfügung gestellt. Einem Eigensinn einzelner Betriebe oder Wirtschaftseinrichtungen waren enge Grenzen gesetzt. Die Idee des absoluten Machterhalts erstickte die Autonomie der Wirtschaft, die so auf Dauer nicht überlebensfähig war.

Zu Beginn setzten beide Staaten auf den Aufbau der Investitionsgüterindustrie innerhalb einer geplanten Wirtschaft. Außerdem wurden private Unternehmen in Staatseigentum überführt und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Löhne und Gehälter wurden aneinander angeglichen, um eine Nivellierung der Gesellschaft zu erreichen und Konsumverzicht gepredigt.

Die erste Krise trat 1953 ein. Die Bevölkerung bewies, welche systemsprengende Kraft ihre Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensstandard und der Versorgung haben konnte. In beiden Staaten reagierte die Führung mit einem stärkeren Fokus auf die Produktion von Konsumgütern. Mitte der 50er bauten die Staaten außerdem die Lenkungsmechanismen teilweise um, was bis Ende der 50er Jahre und zu Beginn der 60er zu einer Systemkrise geführt hatte. Diese zwang zu ersten Anpassungsschritten, die selbstverständlich nicht den Primat der Partei im Kern angreifen sollten.

Deshalb wurden in beiden Staaten zu Beginn der 60er Jahre Expertenrunden einberufen, die die wirtschaftliche Lage stabilisieren sollten, aber den Staat als Ganzes reformierten. Sie erstreckten sich auf das Soziale, die Politik, die Ideologie und die Wirtschaft gleichermaßen. In der CSSR hatten die Experten sogar mehr konzeptuelle Freiheiten, während die Intelligenz in der DDR sich den Wünschen der Partei grundlegend unterordnen musste.

Der Abbruch der Reform beweist die engen Grenzen der Reformversuche. Diese ließen die Regulierungsmechanismen des Marktes und gestanden den Betrieben Eigenverantwortung zu. Bei anderen Selbstregulierungen der Wirtschaft wie etwa dynamischen Preisen, die Angebot und Nachfrage widerspiegelten, schoben sie jedoch einen Riegel vor. Schon Mitte der 60er Jahre wurde das Reformsystem in der DDR modifiziert, Investitionen in Schlüsselindustrien lagen wieder im grundsätzlichen Verantwortungsbereich der Partei.

Die Sozial- und Konsumpolitik war in beiden Staaten zentraler Bestandteil der Reform. Sie galten als ökonomische Hebel, die die Arbeitsleistung der Arbeiter steigern sollten. Der Lebensstandard und die Konsummöglichkeiten sowie die Infrastruktur sollten verbessert werden, Gesundheits- und Arbeitsschutz gewann an Bedeutung, doch die Planung behielt die Bevorzugung anderer Wirtschaftsbereiche dennoch bei. Zentral war in beiden Staaten außerdem der Glaube an eine wissenschaftlich-technische Revolution, die nicht nur die eigene Planung verwissenschaftlichen sollte, sondern auch das Wachstum der Wirtschaft befördern sollte.

Die Reform ging einher mit einer gewissen Liberalisierung der öffentlichen Diskussion systemimmanenter Probleme und Herausforderungen. Doch diese waren in der DDR sehr viel begrenzter möglich als in der CSSR. Die an Bedeutung gewinnenden Gewerkschaften hatten insbesondere in der Tschechoslowakei ein neues Selbstbewusstsein. Sie wurde zur Interessenvertretung der Arbeiter auch gegen die Partei und bis 1968 stand in der CSSR sogar die Parteiherrschaft an sich in Frage.

Die Reform scheiterte in beiden Ländern zum einen an den nicht eingelösten Konsumversprechen der Führung, an den hohen Investitionen und zum anderen an dem Aspekt, dass politische Erwägungen hinsichtlich der Liberalisierungstendenzen den wirtschaftlichen Bestrebungen übergeordnet waren.

Wer noch mehr erfahren möchte und sich dafür interessiert, welche Auswirkungen die Reformen in beiden Ländern auf die Kehrtwende in den 70er Jahren hatten, dem sei der Aufsatz von Boyer ans Herz gelegt. Spannend ist dabei die Betrachtung der beiden Staaten im Vergleich, die trotz unterschiedlicher Herangehensweisen dennoch beide sehr ähnlichen Entwicklungsschritten folgten.

Mehr zum Thema