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»Lieber Thomas«

Wild, unangepasst, zerrissen – Regisseur Andreas Kleinert portraitiert in seinem Film »Lieber Thomas« das Leben von Thomas Brasch, der in der DDR aufwuchs, nach Westberlin ausreiste und seine Heimat doch irgendwo zwischen diesen beiden Welten zu finden versuchte. Wir haben uns den Film im Vorab angesehen. Ab dem 11. November 2021 läuft er in den Kinos. von Vanessa Jasmin Lemke (01.11.2021)

»Die Welt ändert sich aber nicht, wenn man sich zufrieden gibt.« Und Thomas gibt sich nicht zufrieden. Sucht nach dem Sinn im Osten, geht in den Westen und findet ihn auch dort nicht.

Am einfachsten wäre es, hier die beeindruckendsten Zitate aus dem Film »Lieber Thomas« über den Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Poeten und Dramatiker Thomas Brasch, gespielt von Albrecht Schuch, wiederzugeben und auf diese Weise die tiefe Zerissenheit dieser komplexen Person aufzuzeigen. Denn die vielschichtige Darstellung nach dem Drehbuch von Thomas Wendrich lässt sich am besten mit den eigenen Worten des Protagonisten sowie den Texten der realen Person wiedergeben. Die Macher wollen bewusst aber keine Biografie des fast vergessenen Künstlers zeigen. »Es ist ein Erinnern an ihn, ein Nachdenken über Brasch. Wir wagen eine Annäherung, eine Interpretation, eine auf Tatsachen fußende Fiktion eines realen Lebens«, sagt Regisseur Andreas Kleinert. Und so tänzelt der Film gekonnt zwischen Tatsache und Traum, zwischen Leben und Tod, zwischen Existenz und Ekstase.

»Meine Worte sind mein Leben«

Thomas Brasch ist 1945 als ältester Sohn eines jüdischen Paars im Exil in England geboren. Nachdem die Familie 1947 in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ; ab 1949 DDR) umgezogen war, machte sein Vater Horst (Jörg Schüttauf), überzeugter Sozialist, Karriere in der SED und wurde schließlich sogar stellvertretender Minister für Kultur der DDR. Für seinen Sohn sieht er eine Laufbahn beim Militär vor und schickt ihn deswegen auf eine Kadettenschule der Nationalen Volksarmee. Der junge Thomas wusste aber schon früh, dass er Schriftsteller werden will und so begann er nach dem Abitur und einigen Jahren in anderen Tätigkeiten ein Journalistik-Studium, von dem er wegen der Kritik an DDR-Politikern ausgeschlossen wurde. Später absolvierte er ein Studium der Filmdramaturgie, das er aufgrund seiner Taten und Äußerungen auch zu verlieren scheint. 

Die Konflikte mit dem Vater häufen sich und die Hassliebe zwischen den beiden ist eines der stärksten Motive, das sich durch die knapp 2,5 Stunden Film zieht. Thomas zieht schließlich aus der Wohnung der Eltern aus und stürzt sich in die Künstler-Szene Ostberlins, feiert, verliebt sich, schreibt und ist davon überzeugt, trotz all der Einschränkungen auf der besseren Seite der Mauer zu leben. Die Situation eskaliert, als Horst seinen Sohn an die Staatssicherheit verrät und er aufgrund einer Protestaktion gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR 1968 verhaftet und zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt wird. Nach kurzer Haft wird Thomas auf Bewährung entlassen, arbeitet als Fräser und geht weiter seiner Leidenschaft, dem Schreiben, nach. Trotz allem, was ihm in der DDR widerfährt, sieht er in den Ideen des Sozialismus die Chance auf eine bessere Gesellschaft: »Der Westen ist tödlich. Für den Kopf. Für alles.«

Thomas Brasch (Albrecht Schuch) und sein Vater (Jörg Schüttauf) geraten immer wieder aneinander.

»Abschied von morgen, Ankunft gestern – Das ist der deutsche Traum«

Nach dem Schreiben liebt Thomas die starken Frauen in seinem Leben – angefangen bei seiner Mutter (Anja Schneider) – die ihn auf seinem Weg begleiten und ihn prägen. Allen voran die aufstrebende junge Schauspielerin Katarina (Jella Haase), auch Rita genannt, in die er sich auf den ersten Blick verliebt und der er ein Stück auf den Leib schreiben will und wird. Obwohl Katarina – historisches Vorbild ist die Schauspielerin Katahrina Thalbach – schwanger und bald heiratet ist, verliebt auch sie sich in ihn. 

Brasch will, dass seine Inszenierungen und Texte in der DDR für die DDR-Bevölkerung aufgeführt werden bzw. erscheinen, auch wenn sich ein Westberliner Verlag schon längst um ihn bemüht. Noch sieht er die Mauer tatsächlich als antifaschistischen Schutzwall, der die Menschen vor dem Westen schützt. Aber selbst ein persönlicher Besuch bei Erich Honecker, der Thomas schon seit seiner Kindheit kennt, nützt nichts. Verbote, Zensur, Bespitzelung und Enge führen letztendlich dazu, dass Thomas und Katarina zusammen mit der kleinen Tochter nach Westberlin ausreisen. Dort werden nun auch Braschs Werke veröffentlicht und feiern große Erfolge. Er wird zum Shooting Star, der sogar in New York gefragt ist. Auch Katarinas Karriere nimmt weiter an Fahrt auf. Ihre Beziehung hingegen scheint schwieriger zu werden, auch wegen Thomas' zunehmenden Drogenmissbrauchs. Wie ein Bessessener schreibt er an einem Buch, das er nie vollenden wird, und lebt zwischen Realität und Halluzination. 

Der Vater erscheint ihm zuletzt im Traum und ist in Wirklichkeit schon tot, während die DDR kurz vor ihren Ende steht. Nach der Wiedervereinigung vergräbt sich Thomas Brasch in seinen Texten, die er so liebt. 

»Mein Leben steht nicht zum Verkauf«

Das Leben Thomas Braschs ist erzählenswert. Das haben die Macher*innen von »Lieber Thomas« schon vor vielen Jahren bemerkt und sich lange intensiv mit der komplexen Person auseinandergesetzt. Den in Schwarz-Weiß gedrehten Film bezeichnet Regisseur Anderas Kleinert als »[...] atemlose[n] Ritt durch verschiedene Bewusstseinsebenen [...]«. Neben den großartigen Schauspieler*innen beeindruckt der Film durch seine starken Kontraste: Vater gegen Sohn, Neubau gegen Altbau, Berliner Ensemble gegen Fabrik, Ulbricht gegen Hakenkreuze, Ku'Damm gegen Prenzlauer Berg usw. Wer die Bilder sieht, wird es verstehen.

Der Film verläuft chronologisch, bewegt sich aber ständig zwischen Traum und Wirklichkeit. Genau dieses Stilmittel bewirkt eine anhaltende Spannung in der Handlung und lässt Zuschauer*innen mitfiebern. Am Beispiel des Lebens Thomas Braschs lässt sich die Geschichte des Kalten Kriegs nachvollziehen, wobei immer das persönliche Schicksal des hochsensiblen, zwischen Ost und West hin- und hergerissenen Mannes im Vordergrund steht, der in der DDR als Rebell und im Westen als Jude / Stasi-Gefangener / Kommunist / Autonomer gesehen wird. Als all das will er aber nicht gesehen werden und weigert sich, sich den Forderungen von Außen zu beugen. 

Alle Aspekte dieses vielschichtigen Filmes zu beleuchten würde noch einiges an Text bedeuten. Vielmehr möchten wir empfehlen, sich »Lieber Thomas« im Kino anzusehen und sich dem Leben dieses fast vergessenen Künstlers über dieses Portrait zu nähern. 

Filmplakat »Lieber Thomas«
Thomas Brasch (Albrecht Schuch) liebt die Frauen und das Schreiben.
Der Schriftsteller Thomas Brasch (Albrecht Schuch) feiert mit Katarina (Jella Haase) nach der Ausreise in den Westen die dortige Veröffentlichung seines Buches.
Thomas Brasch (Albrecht Schuch) stellt in New York sein Buch »Vor den Vätern sterben die Söhne« vor.
Ein glückliches Paar: Thomas Brasch (Albrecht Schuch) bringt Katarina (Jella Haase) zu ihrer Theaterprobe.
In der DDR konnte er nicht bleiben und im Westen fehlte ihm der Widerstand: der Künstler Thomas Brasch (Albrecht Schuch).

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