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"Die Normalität des Absurden" – Interview mit Dr. Heinz Schneider

Mit großem Interesse hatte ich das Buch „Die Normalität des Absurden“ von Heinz Schneider gelesen. Ich war freudig überrascht als ich die Gelegenheit bekam, ihn persönlich interviewen zu können. Heinz Schneider und seine Frau Thea Schneider haben mich in ihrer schönen Wohnung in Mahlow herzlich willkommen geheißen! Ich möchte Sie folgend an unserem Gespräch teilhaben lassen. (16.05.2017)

Julia van Duijvenvoorde: Was mich von Anfang an überrascht hat, war die Menge an Details in der Geschichte, die Sie in Ihrer Autobiographie erzählen. War das Buch ein lebenslanges Projekt?

Heinz Schneider: Nein! Ich habe mich erst im Jahr 2007 entschlossen, meine Lebensgeschichte zu veröffentlichen. Das war, als mein leider schon verstorbener guter Freund und Kollege Kay Blumenthal-Barby aus Göttingen zu mir gesagt hat: Schreib doch alles auf!“. Ich war und bin keine Schriftsteller, sondern ein Chefarzt einer Diabetesabteilung von 1967 bis 1998. Danach war ich aber nicht mehr berufstätig und deswegen habe ich mir einige Jahre später die Zeit genommen, alle Anekdoten und Erinnerungen in Worte zu fassen und dann chronologisch zu ordnen. Der Grund meiner Detailgenauigkeit ist ein „Gedächtnis-Protokoll“, das ich ab 1957 geführt habe. Jedes Mal, wenn mir etwas Ungerechtes passiert ist, habe ich es detailliert niedergeschrieben und habe diese „Geheimunterlagen“ fast wörtlich in meinem Buch verwendet. Also musste ich mich nicht an jede Einzelheit erinnern, da ich schon alle Unterlagen hatte.

Julia van Duijvenvoorde: Also war dieses Buch politisch motiviert?

Heinz Schneider: Ja! Nach meiner „Bewährung in der Produktion“ als Landarbeiter 1958 war ich in der DDR politisch nicht mehr besonders aktiv, aber bin mit den Ungerechtigkeiten des SED Regimes nie klargekommen. In der DDR hatte man nichts als parteiloses Individuum zu sagen, man konnte nicht „nein“ sagen, wenn etwas von oben kam. Ich war nicht der mutigste Mensch aber habe trotzdem alles aufgeschrieben, weil ich damals meine Geschichte niemandem erzählen durfte. Mein Buch bezieht sich aber nicht nur auf diese damals von mir verborgenen Unterlagen, sondern auch auf glückliche Anekdoten aus meinem damaligen Alltagsleben. Ich habe das Buch für die normale Bevölkerung verfaßt, um zu zeigen, dass die DDR nicht total schlecht aber auch nicht zu 100% gut war. Ich wollte durch die Schilderung ein reelles Bild der DDR zeichnen, nicht mehr und nicht weniger. Denn als Zeitzeugen sind wir Älteren nicht mehr lange präsent.  

Julia van Duijvenvoorde: In Ihrem Buch sagen Sie, dass Sie sich „nie als DDR Bürger“ gefühlt haben. Trotz Ihres emotionalen Abstands vermissen Sie einige Aspekte des Alltagslebens in der DDR?

Heinz Schneider: Auch wenn es uns in der Bundesrepublik viel bessergeht, vermisse ich einige Errungenschaften der DDR. Es gab keine Obdachlosen und Bettler auf der Straße, da jeder Arbeit hatte. Die Gleichberechtigung der Frau in der DDR hatte auch einen höheren Stellenwert als zur gleichen Zeit in der BRD. Die Frauen waren fast alle berufstätig dank eines besseren Kinderbetreuungssystems. Außerdem gab es für die berufstätigen Frauen monatlich einen bezahlten Haushaltstag, ferner wurde gleiche Arbeit gleich entlohnt und bereits mit 60 Jahren erhielt die Frau ihre Altersrente. Allerdings sind mir nur 2 Ministerinnen bekannt. Sehr hohe Funktionen waren damals auch hier nur den Männern vorbehalten. Am meisten vermisse ich die engere Nachbarschaft, die wir damals genossen haben. Der soziale Zusammenhalt und die Bereitschaft, anderen Leuten freiwillig zu helfen, waren größer als heute.

Julia van Duijvenvoorde: War diese enge Nachbarschaft und das starke Gemeinschaftsgefühl mit den Ideen des Sozialismus’ verbunden?

Heinz Schneider: Nein! Diese Hilfsbereitschaft war das Ergebnis einer chronischen Mangelwirtschaft und hatte mit der Ideologie der DDR nichts zu tun. Da manche Produkte nur selten verfügbar waren, musste man mit dem Angebot des Tages improvisieren und einander gegenseitig helfen.

Thea Schneider: Es gab immer eine große Schlange in den Verkaufsstellen. Wenn ich die Möglichkeit hatte, Bückware in einem Geschäft erhalten zu können, habe ich sie auch für meine Nachbarn geholt, wie diese Kaffeetassen und Untertassen aus Porzellan mit goldenen Rändern für die Krankenschwestern der Diabetesabteilung.

 Heinz Schneider: Man soll aber nicht vergessen, dass das SED Regime große negative soziale Auswirkungen mit sich gebracht hatte. Wenn man einen Witz erzählte, musste man sich immer erst umschauen! Nachdem ich entdeckt hatte, dass ich von einem Kollegen überwacht wurde, habe ich mich aus Reflex selbst von mir gutartig erscheinenden Leuten isoliert, um mich und die Familie zu schützen. Des Weiteren wurden Menschen niederträchtig behandelt, wenn sie sich gegen die Partei gestellt haben. Trotz dieser Nachteile hatte ich mich entschieden, in der DDR zu bleiben. Vor dem Mauerbau sind zahlreiche Ärzte in den Westen geflohen. Deshalb war es meine Pflicht hier zu bleiben, wo weit weniger Ärzte präsent waren und ich deshalb nötiger gebraucht wurde als in der mit Ärzten – auch aus dem Osten – gut versorgten Bundesrepublik.

Julia van Duijvenvoorde: Soziale Gleichheit war ein Schwerpunkt des sozialistischen Staats, aber spiegelte sie sich auch im Zugang zur ärztlichen Betreuung wider? 

Heinz Schneider: Patienten wurden alle kostenfrei behandelt und nach meiner Meinung war die Betreuungsweise keinesfalls schlechter als die heutige. Diese Gleichheit hatte eine Begrenzung: Hohe Parteifunktionäre wie Politbüromitglieder und ihre Angehörigen sowie Minister wurden im Regierungskrankenhaus behandelt und profitierten von der optimalen Medizintechnik und besseren Betreuung durch ein erhöhtes Ärzteangebot. Politbüromitglieder wie Willi Stoph verfügten sogar über einen personenbezogenen „Leibarzt“. Allerdings war der Prozentsatz derartig Privilegierter relativ gering.

 Julia van Duijvenvoorde: Sie waren langfristig Chefarzt der Diabetesabteilung des Kreiskrankenhauses Prenzlau zwischen 1967 und 1998. Hat die politische oder wirtschaftliche Lage der DDR Ihre Arbeit und Forschung in irgendeiner Art und Weise behindert?

 Heinz Schneider: Wegen der Planwirtschaft und dem Mangel an Investitionen war die Infrastruktur in der DDR ziemlich veraltet. Man hätte auch mehr Krankenhäuser bauen müssen. Im Vergleich zum Westen hatten wir die moderne medizinische Technik nicht und mussten zum Beispiel auch Insulin für bestimmte Patienten aus dem Westen importieren, weil es von deren Haut besser vertragen wurde. Auch wenn viel ärztliche Hilfe aus anderen sozialistischen Staaten wie Polen, Bulgarien oder der Tschechoslowakei kam, war die internationale wissenschaftliche Kooperation limitiert, insbesondere in den 80er Jahren. Anfangs konnte ich durch Briefe mit Kollegen aus Westdeutschland kommunizieren, aber jeglicher Kontakt wurde dann kurz vor der Wende untersagt. In der DDR konnte ich langfristige Diabetesstudien durchführen, weil es sich um ein staatliches Gesundheitssystem handelte. Unter den heutigen Verhältnissen wären derartige Langzeituntersuchungen unmöglich.

 Julia van Duijvenvoorde: Hat die Wiedervereinigung Änderungen in der medizinischen Abteilung mit sich gebracht?

 Heinz Schneider: Das westliche Gesundheitssystem wurde im Osten übernommen, aber nicht jeder fand die auf Gewinn orientierte Privatisierung des Systems gut. Folgen der Privatisierung waren eine verbesserte Medizintechnik und renovierte Räume zum Beispiel. Auf der anderen Seite der Medaille wurden Patienten wie Kunden behandelt und dadurch entstand ein Zweiklassensystem, in dem privatversicherte Patienten punktuell bevorzugt wurden. Die meisten positiven Elemente des DDR Gesundheitssystem wie z.B. die verbesserte Tuberkulosebekämpung, der erhöhte Durchimpfungsgrad der Bevölkerung und der schnellere Zugang zu einem Facharzt wurden aufgegeben. Patienten wurden jetzt öfter vom Allgemeinmediziner als vom Spezialisten betreut. In der Diabetesversorgung wurden jedoch positive Elemente in Form von Schwerpunktpraxen auch vom Westen übernommen. Ein wissenschaftlicher Rückstand zur BRD bestand in meinem Fachgebiet in der DDR nicht.

 Julia van Duijvenvoorde: Wie haben Sie die Wiedervereinigung persönlich erlebt, unabhängig von den Veränderungen im Berufsleben?

 Heinz Schneider: Für mich war der Bau der Mauer ein schreckliches Ereignis, weil ich von meiner Verwandtschaft in Oberbayern getrennt wurde. Deshalb war der Mauerfall, der ganz schnell zur Wiedervereinigung führte, für mich und die meisten meiner Landleute ein Riesenglück, denn eine friedliche Revolution ohne Blutvergießen hatte es in Deutschland noch nie gegeben. Einige Schwestern meiner Abteilung sind noch am 9. November 1989 nachts in das nahegelegene Westberlin gefahren, wurden außerordentlich freundlich von der dortigen Bevölkerung aufgenommen und haben westliche Waren als Geschenk mitgebracht. Am nächsten Morgen waren alle vollzählig wieder pünktlich zur Arbeit erschienen.

Ich freue mich noch heute an jedem Tag, dass wir in der größer gewordenen Bundesrepublik in einer Demokratie leben und die zahlreichen Nachteile einer über 40-jährigen partiell brutalen Diktatur durch die SED, die sich eine „führende Rolle“ anmaß, nicht mehr erdulden müssen. 

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