Es war ende Juni und mir war kalt, als wir das Flugzeug verließen. Der Flughafen war sehr belebt und aufgrund des Luftdruckwechsels hatte ich so meine Probleme mit dem Hören. Plötzlich standen wir vor zwei Frauen. Eine von ihnen begrüßte uns auf amharisch, der Amtssprache Äthiopiens, und stellte sie beide vor. Ich brauchte eine Weile, um zu glauben, dass eine Deutsche unsere Sprache sprechen konnte.
Ihr Name war Konstanzel Prehel [Shimelis konnte sich an die korrekte Schreibweise nicht erinnern] und arbeitete als unsere Dolmetscherin. Sie trug einen Schal, der denen unserer traditionellen Kleider gleich kam. Ich verstand nicht wie eine rassistische typische Deutsche die Tracht einer schwarzen Nation tragen konnte.
Mein kindliches Gemüt sagte mir, dass ich im Land der Nazis war, die tausende Menschen quälten und ermordeten und sogar Genozid an den Juden verübten. Man erzählte mir, dass sie unendlichen Hass und Feindseligkeit gegenüber allen schwarze Menschen empfanden. In meinem Kopf waren die Deutschen gnadelose Verfolger. Diese beiden Frauen hingegen wirkten herzlich und freundlich. Zur Begrüßung umarmten und küssten sie uns auf die Wangen.
Die äthiopische delegation mit Shimelis (trägt die äthiopische Flagge), drei anderen äthiopischen Kindern, ihrem Lehrer, Constanze Prehl und ihre Sprachmittlerkollegin Susanne, deren Nachname unbekannt ist.Ich habe von 1984-88 an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig (heutige Universität Leipzig) Sprachmittler für Englisch und Amharisch studiert. In den Sommerferien hatten wir immer eine Auswahl an Studenteneinsätzen, für die man sich bewerben konnte. Zu Beginn des Studiums war ich auf einer Baustelle in Berlin, dann u.a. in einem Ferienobjekt des FDGB in Mecklenburg.
Später waren dann auch fachliche Einsätze, quasi Sprachpraktika (dieser Begriff war damals nicht üblich) möglich, wie in der Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" in Altenhof. Das war ein großes internationales Sommerlager, in dem sich Kinder und Jugendliche aus aller Welt trafen. Erinnern kann ich mich noch an Delegationen u.a. aus Mosambik, Angola, Tansania, São Tomé und Príncipe. Jede Gruppe wurde vor dem Wilhelm Pieck Denkmal abgelichtet. Die Jugendlichen "meiner" Delegation gehörten zu den älteren. Auf dem Foto sieht man gut, dass das äthiopische Naturell eher zurückhaltend und förmlich war und ist, was sich erst bei einer traditionellen Tanzdarbietung etwas lockerte. Den Kindern wurde ein umfangreiches Freizeitprogramm geboten und man war sehr bemüht, die unterschiedlichen Kulturen vorzustellen und sich gegenseitig auszutauschen. Zum Beispiel gab es Abende, an denen landestypisch gekocht wurde und es mangelte nicht an den Ingredienzien. Die Äthiopier kochten mit Leidenschaft ihren geliebten Wot (sehr scharfes Fleischgulasch), selbst Süßkartoffeln, die ich damals zum ersten Mal sah und kostete, kochten die Mosambikaner.
Natürlich gab es auch politisch bildende Programmpunkte, z.B. setzten sich die Gruppen mit den Rechten der Kinder in einer Art Workshop auseinander. Für die Abschlussveranstaltung wurde reichlich geprobt, an ein äthiopisches Pionierlied und einen Tanz mit einem Tierfell um den Kopf, um einen Löwen zu mimen, kann ich mich noch trübe erinnern. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für alle beteiligten Kinder, besonders für die Äthiopier, ein bleibendes Erlebnis war.
Verwirrung und Verdächtigungen schwirrten mir durch den Kopf. Auf dem Weg zum Bus, der uns in die Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" bringen sollte, ergriff Susanne, die andere Frau, meine Hand und versuchte mich zu beruhigen. Sie wirkte glücklich, auch wenn ich ihre Worte nicht verstehen konnte.
Die Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" war 60 km weit von Berlin entfernt. Es war Nacht, aber das, was wir von Berlin sehen konnten, war absolut beeindruckend. Die farbenfrohe, prächtige Stadt war bezaubernd bei Nacht. Ich hatte noch nie einen derart komfortablen Bus gesehen. Die Sitze waren vorzüglich und er war bis in die letzte Ecke sauber. Darin saßen noch viele weitere Teenager und Besucher des Ferienlagers. Abgesandte aus unterschiedlichen Ländern strömten in das Camp.
Während der Fahrt unterhielt sich Coni mit mir. Ich fühlte mich immer sicherer, obwohl ich argwöhnisch gegenüber anderen Deutschen blieb. Meine Eltern hatten mir nie Gute-Nacht-Geschichten erzählt. Ich habe nie erlebt, wie sie beieinander saßen oder mit mir ein Picknick machten. Niemand hatte mich als Kind umarmt. Bis auf diese Frau, die ich erst seit ein paar Minuten kannte, sie behandelte mich wie eine Mutter.
Wir erreichten das Lager nachts. Es gab viele Lampen, die das gesamte Areal beleuchteten. Die Schönheit des Gartens war atemberaubend. Susanne führte uns in die Unterkünfte. Eine ältere Frau, die Verwalterin unserer Unterkunft, kam uns zur Begrüßung entgegen. Alle Schlafsäle hatten einen deutschen Koordinator, der diese verwaltete.
Wir wurden auf verschiedene Schlafräume verteilt. Meine äthiopischer Freund und ich lebten mit drei ungarischen Jungs zusammen. Die Zimmer waren prächtig hergerichtet. Das also war mein neues zu Hause für die nächsten paar Monate.
Fortsetzung folgt...
Text: Shimelis Haile Aga
History Box: Constanze Prehl
Editorial staff: Michael Geithner, Lisa Laubner