Nach dem 13. August 1961 wurde in der DDR ein altbekanntes Scherzlied wieder populär: „Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ´ne kleine Wanze./Seht euch mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann.“
Nach jedem Absingen wurde der letzte Buchstabe weggelassen. Aus Wanze wurde Wanz, dann Wan … Wa … W usw. Wer sich versprach und den Laut mitsang, flog aus dem Rundgesang. Das war sehr lustig und hätte vollkommen harmlos sein können. Wenn das böse Wort Mauer nicht gewesen wäre, dazu noch in Kombination mit Wanze, bei dem man weniger an das Insekt dachte als an die kleinen Abhörmikrofone einer gewissen Einrichtung. Hinzu kam vielleicht unbewusst die hintergründige Bedeutung des Spiels: Wer einen Mucks zu viel sagt, ist raus.
Statt Mauer wurde von der SED das Wortungetüm „Antifaschistischer Schutzwall“ verordnet. Erstmals taucht der Begriff am 15. Oktober 1961 in einer Rede Walter Ulbrichts vor Vertreterinnen der DFD-Frauenausschüsse auf. Ulbricht unterstrich „die große Bedeutung der Maßnahmen vom 13. August, durch die an den Grenzen der DDR ein antifaschistischer Schutzwall errichtet worden sei.“ Dann fügt der Generalsekretär die kühne Behauptung hinzu: „Diese Maßnahmen entsprechen nicht nur den Wünschen der Frauen in der DDR, sondern auch denen der Mehrheit der Frauen in Westdeutschland, selbst wenn letztere sich dessen heute noch nicht voll bewußt sind.“
Von nun an wurde der Begriff „Antifaschistischer Schutzwall“ förmlich zu Tode geritten. Dahinter steckt die Propagandalüge, die Sperrmaßnahmen seien notwendig gewesen, um die geplante Aggression des westdeutschen Imperialismus zu verhindern. Die traurige Wahrheit war, dass die DDR ihre Bürger durch Stacheldraht und Minenfelder daran hindern musste, wegzulaufen.
Von einem Mauerfall wagte lange Jahre niemand mehr zu träumen. Doch die Bezeichnung Mauer ließ sich so wenig ausmerzen wie das Lied. Sollten die Leute etwa singen: „Auf dem Antifaschistischen Schutzwall auf der Lauer sitzt ´ne technische Installation zur akustischen Raumüberwachung des MfS“? Die Terminologie der Macht widersetzte sich jedem Versmaß.
P.S. Der Text ist Teil unserer Sonderausstellung »Der Aufstand der Wörter – Ein Wortspiel zur Sprache der “Wende“«, die vom 8. Februar bis zum 2. April 2017 im Foyer des Museums zu sehen ist. Hier sind die Besucher eingeladen, Sprüche und Zitate der Wendezeit spielerisch herauszufinden und in Kreuzworträtsel einzutragen. Hilfestellung erhält man durch symbolisch inszenierte Objekte. Dieser Texte enthält zusätzlich den einen oder anderen Hinweis.
Thema der Sonderausstellung sind die tiefgreifenden sprachlichen Veränderungen in den Jahren 1989/90 in der sich wandelnden DDR und während des beginnenden Transformationsprozesses der Wiedervereinigung. Dieser Sprachwandel wird in vier Vitrinen anhand von positiv und negativ besetzten politischen Schlagwörtern dargestellt, die eine Eigendynamik entwickelten und zu geflügelten Worten wurden.