DDR-Geschichte

Jubel und Tränen am 13. August 1961

In diesem Beitrag schreibt Dr. Stefan Wolle über seine persönliche Erinnerung an den 13. August 1961 – dem Tag des Mauerbaus – den er als 10-Jähriger im Ferienlager M.I.Kalinin verbrachte. von Dr. Stefan Wolle (13.08.2010)

Wie jeden Morgen plärrten die Lautsprecher durch das Pionierferienlager »M.I. Kalinin« am Frauensee. Das ewige Dröhnen der Tonanlage gehörte zum Lagerleben wie die Kiefern, der märkische Sand und der Badesee. Für einen Zehnjährigen waren es die gleichen Parolen wie immer. Bonner Ultras ... Sicherung des Friedens ... Spionagezentrale Westberlin... Schutz der Republik ... . Doch die Erwachsenen wirkten nervös. Sie standen in Gruppen herum, versuchten aufgeregt über das Telefon Berlin zu erreichen. Eine der Erzieherinnen heulte laut und hemmungslos. Die anderen redeten auf sie ein, vermochten sie aber nicht zu beruhigen.

Wimpel mit Aufschrift »Zentrales Pionierlager M.I. Kalinin

Dann wurde zum Fahnenappell getrommelt. Alle traten gruppenweise auf dem Appellplatz an. Es erfolgte eine Meldung: »Lagerfreundschaft M.I. Kalinin angetreten.«. »Für Frieden und Freundschaft! Seid bereit!« rief der Freundschaftsvorsitzende zackig. »Immer bereit« tönte es im Chor zurück. Dann trat der Geschichtslehrer G. nach vorne. Auch er war keineswegs in Jubelstimmung. Doch er erklärte, warum es notwendig gewesen sei, die Staatsgrenze der Republik zu sichern. Schieber und Spekulanten hätten die Geschäfte im Demokratischen Sektor leer gekauft, Grenzgänger hätten im Westsektor gearbeitet und ihr Geld eins zu vier umgetauscht, aber gleichzeitig von den billigen Mieten und niedrigen Lebensmittelpreisen im Osten profitiert. Davon hatte man schon gehört. Schon vor einigen Wochen hatte man in der Stadt Plakate ausgehangen, auf denen einer dieser Grenzgänger zu sehen war. Die Taschen voller Westgeld griff er gierig in die Regale eines Lebensmittelgeschäfts. Darunter stand: »Pfui, Grenzgänger!« Vor allem aber würden Jugendliche aus der DDR verleitet, in Westberlin krumme Geschäfte zu betreiben. Man würde sie durch Cowboy- und Tarzanhefte zur Menschenverachtung erziehen. Manche von ihnen seien in der Fremdenlegion gelandet. Das alles leuchtete mehr ein als die Parolen aus dem Lautsprecher. So ähnlich hatte ich es auch von meinen Eltern gehört.

Der Tagesablauf im Pionierferienlager würde wie üblich seinen Gang nehmen. Einigen besorgten Eltern, die angerufen hatten, sei gesagt worden, es gäbe immer noch genug zu essen. Fröhliches Gelächter. Wegtreten zum Baden. Die heile Welt des Sozialismus war wieder in Ordnung. Mir ging die Frau mit ihren Tränen nicht aus dem Sinn. Wie konnte man heulen, weil die Schieber und Grenzgänger eins auf die Finger bekommen hatten? Ich habe es damals nicht begriffen, aber auch nicht vergessen.

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