Unser heutiger Schatz aus der Bibliothek befasst sich, wie es der Titel erahnen lässt, mit einem ganz spezifischen Bereich der sog. "Bückware", nämlich dem verbotener und/oder mit strengen Auflagen und Zensur belegter Literatur in der DDR. Werfen wir einen Blick auf "Heimliche Leser in der DDR - Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur" von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag.
Angelehnt ist das Werk an die Leipziger Konferenz "Der Heimliche Leser in der DDR" (Haus des Buches, 26. - 28. September 2007) (vgl. S. 11). Diese "behandelte ein Phänomen, das dem geistig regen Bewohner des einstigen Leselandes, aber auch seinem westlichen Besucher bestens vertraut war: Man versuchte, oft auf recht abenteuerliche Weise, an Literatur heranzukommen, die in der DDR nicht leicht zu haben, kulturpolitisch ausgegrenzt oder verboten war." Diese Tagung eröffnete ein neues Forschungsfeld, mit dem sich nun dieses Werk auseinandersetzt. Damit ist bereits gesagt, dass nicht alle dazugehörigen wichtigen Unterthemen jetzt schon angemessen behandelt werden konnten. Dennoch wird versucht, die Thematik von möglichst vielen, unterschiedlichen Seiten zu beleuchten. Um dies zu erreichen, werden Vertreter verschiedenster Lesergruppen und Milieus befragt: Beiträge älterer wie auch jüngerer Wissenschaftler und Zeitzeugen aus Ost und West treffen aufeinander, „um eine kreative, für alle Beteiligten bereichernde Mischung aus detailkundiger Anschauung und objektiver Distanz zu generieren, die die Konfrontation von Täter- mit Opferperspektiven nicht scheut.“ (vgl. S. 15). Aktenanalysen und Zeitzeugenberichte von Bücherschmugglern und ehemalige Zolloffizieren, Theologen, Dissidenten und Postkontrolleuren der Stasi geben überraschende Einblicke in eine Welt voller leidenschaftlicher Leser, in eine Welt ohne Kopiergeräte und eigene Drucker, in der die Texte als besonders kostbar galten.
Das Ergebnis ist ein äußert umfangreicher, z. T. wissenschaftlicher Band, der, im Gegensatz zu früheren Publikationen, den Schwerpunkt von der Betrachtung des so genannten Druckgenehmigungsverfahrens, also der Produktion, auf die Distribution und Rezeption von Literatur in der DDR verlagert. Nicht mehr die staatliche Kontrolle der Beziehung zwischen Autoren und Verlagen in der Hervorbringung von ‚erlaubten‘ Texten steht nun im Mittelpunkt, sondern Verbreitungsformen, die Lesern einen Zugang zu Literatur eröffneten, die nicht das Druckgenehmigungsverfahren durchlaufen hatte. Der Leser erfährt so bspw., wie 42.000 Exemplare des Wachtturms in einen VW-Bus passen und wie man Bücher am Besten in der Eisenbahntoilette verstecken konnte. Die Nervenanspannung bei der Zollkontrolle kommt dabei genauso zur Sprache wie die unwiderstehliche Anziehungskraft von Giftschränken in Bibliotheken und das Verlangen nach Westliteratur an den Leipziger Messeständen.
Dieses umfassende Werk enthält derart viele Beiträge von so zahlreichen Autoren, dass sie hier nicht alle genannt werden können. Doch unter den Kapitelüberschriften
findet der Leser Artikel und Erinnerungen von Mark Lehmstedt, Michael Meyen, Anne Richter, Thomas Klein, Jeannine Wanek, Jörn-Michael Goll, sowie sage und schreibe noch 30 weiteren Autoren, Siegfried Lokatis selbst nicht inbegriffen. Abschließend folgt der Anhang, in dem das Abkürzungsverzeichnis, Bildnachweis, Editorische Notiz und Dank, Angaben zu den Herausgebern und Autoren, sowie das Personenregister zu finden sind.
Das Buch „Heimliche Leser in der DDR – Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur“ von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag ist im September 2008 im Berliner Christoph Links Verlag erschienen. Es hat die ISBN 978-3-86153-494-5 und ist für 29,90 € erhältlich.