Rainer Gries: Werbung für alle! Kleine Ideologiegeschichte der Wirtschaftswerbung in der DDR mit einem Exkurs zur Gemeinschaftswerbung für “Wolcrylon“, in: Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert: neue Wege der Unternehmensgeschichte, hrsg. v. Clemens Wischermann et al., S. 99-129.
Rainer Gries ist seit 2014 Inhaber des transdisziplinären Franz Vranitzky Chair for European Studies am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Seit 2013 ist er außerdem Professor für Psychologische und Historische Anthropologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien/Berlin/Paris und zusätzlich seit 2009 apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit der Werbegeschichte der DDR sowie weiteren Formen der Kommunikation über Produkte. Sein dreidimensionales Modell der Produktkommunikation ist für diesen Forschungsbereich richtungsweisend.
In seinem Aufsatz über die Geschichte der Wirtschaftswerbung in der DDR unternimmt er einen Streifzug durch die 50er und 60er Jahre der DDR und den Umgang mit dem „kapitalistischen Relikt“ Wirtschaftswerbung in der Politik der DDR-Wirtschaftsinstitutionen.
Neuer Kurs für die Werbung
Mit dem Neuen Kurs 1954 sollte auch die Verkaufskultur und die Werbung in der DDR verbessert werden, um die neuen Konsummöglichkeiten den DDR-Bürgern zu verdeutlichen. 1954 wurde die Zeitschrift „Neue Werbung“ ins Leben gerufen, die eine fachliche und ideologische Betreuung der Werbeschaffenden gewährleisten sollte. Als Quelle ermöglicht sie heute einen Einblick in die Geschichte der Werbung in der DDR sowie in die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Werbeschaffenden und ihres Metiers. Werbung hatte beispielsweise gemäß des Kulturfunktionärs Abusch zwei gesellschaftliche Sphären verbinden: die Ökonomie und die Kultur. Es ging darum, sowohl ein sozialistisches Wirtschaften zu unterstützen, als auch kulturelle Werte zu vermitteln.
Die ethisch und moralisch wünschenswerteste Werbung war hierbei die Gemeinschaftswerbung. Dies bedeutet ein gemeinschaftliches Werben unterschiedlicher Betriebe sowie des Groß- und Einzelhandels und für unterschiedliche Produkte. Das Ministerium für Handel und Versorgung sollte diese ab den 60er Jahren koordinieren. Das Primat der Politik sollte demzufolge durchgesetzt werden.
In den 50er Jahren, so Gries, hatte die Werbung noch einen schlechten Stand. Werbung galt als ein Überbleibsel aus kapitalistischen Zeiten, das in der DDR nicht weiter gebraucht wurde. Sie wurde mit unmoralischer Marktschreierei assoziiert und da das Warenangebot in diesen Jahren noch außerordentliche Mängel aufwies, blieb die Frage: Wozu Binnenhandelswerbung betreiben? Doch die Werbebefürworter versuchten einer neuen sozialistischen Werbung einen zumindest zeitweiligen Platz in der DDR einzuräumen. Die kapitalistische Reklame wurde stark von dieser neuen sozialistischen Werbeform abgegrenzt. Dennoch blieben viele Ressentiments, sollte doch der Plan für die Verteilung der Güter sorgen. Andererseits erkannten manche aber bereits die Möglichkeiten einer sozialistischen Werbung, die sozialistische Verbrauchsgewohnheiten und Werte transportieren, bedarfslenkend wirken und die Überlegenheit des Sozialismus darstellen konnte.
In diesem Sinne sollte die sozialistische Werbung ab 1958 den Wettbewerb der Systeme gekonnt in Szene setzen, die ökonomische Hauptaufgabe und den 7-Jahrplan massenwirksam öffentlich machen. Die parteieigene DEWAG-Werbung gab Anfang der 60er Jahre erste Grundzüge einer sozialistischen Werbung heraus, die die Werbung nicht nur ökonomisch als bedarfslenkenden Faktor begründeten, sondern die genannten politisch-ideologischen und kulturell-erzieherischen Aufgaben zusätzlich ausformulierten.
Die 60er Jahre
Mit Einführung des NÖSPL erlangten auch die Werbeschaffenden größere Handlungsspielräume. Materielle Interessiertheit der Arbeiter und Angestellten sollte die Leistungs- und Innovationsbereitschaft in den Betrieben beflügeln. Zur bedeutenden Kennziffer wurde der Absatz erhoben. Verbunden mit diesen neuen marktwirtschaftlichen Tendenzen entstand eine breiter angelegte Bedarfsforschung, die zusammen mit der bedarfslenkenden Werbung einen umfassenden Absatz von Waren ermöglichen sollte. Werbeschaffende sahen nun ihr Wirken als legitimen Teil des Planes an. Doch auch der Staat erkannte die neue Einflusssphäre der Werbung und missbilligte die bisherige Werbearbeit, die noch zu stark mit kapitalistischer Methodik und Argumentation verbunden war. Eine straffe staatliche Leitung und Kontrolle der Werbearbeit sollte Abhilfe schaffen.
Gerade hinsichtlich der Gemeinschaftswerbung nutzten die staatlichen Institutionen ihre Eingriffsmöglichkeiten. Die Trennung von Wirtschaftswerbung und Agitation und Propaganda wurde weitestgehend aufgehoben. Im Handbuch der Werbung von 1968 wird dies deutlich: Sozialistische Werbung ist parteiliche Werbung. Ihre Kommunikationsfunktionen sind dazu auszunutzen, bewußt die Einheit von Ökonomie, Politik, Ideologie, Kultur und Bildung herzustellen.“ (Autorenkollektiv: Handbuch der Werbung, Berlin (Ost) 1968, S. 64.) Gries urteilt jedoch, dass die ideologische Durchdringung der Werbeschaffenden offensichtlich zu wünschen übrig ließ und eine Eigenwilligkeit trotz staatlicher Kontrollversuche vorhanden blieb.
Gemeinschaftswerbung Wolcrylon
Anhand der Werbemaßnahmen für die Kunstfaser Wolcrylon ab Anfang der 60er Jahre beschreibt Gries die Eigenheiten der sozialistischen Werbung. So sollte der Gebrauchswert der wolleähnlichen Chemiefaser hervorgehoben werden. Es ging darum, Vorurteile gegenüber den Chemiefasern zu beseitigen und die besonderen Eigenschaften der Fasern zu verdeutlichen statt auf Bedürfnisse wie Prestige oder Modebewusstsein einzugehen. Darüber hinaus ist die Wolcrylon-Kampagne ein Paradebeispiel der Gemeinschaftswerbung. Schließlich ging es nicht darum, verschiedene Kleiderkollektionen abzusetzen, sondern einen in der Textilindustrie vielseitig eingesetzten Stoff zu bewerben. Erst danach erfolgte die Bewerbung von Einzelprodukten.