Was heute in Anbetracht allseits begehrter Altbauwohnungen paradox klingt, stellte in den Altstädten der DDR Mitte der 70er-Jahre eine allgegenwärtige Problematik dar: Das Wohnen im Altbau war negativ besetzt und bedurfte offenbar der Rechtfertigung :
»Bedeutet unsere Wohnung im Altbau Enttäuschung, schlechtes Lebensgefühl und Resignation? Wir setzen dem ein entschiedenes Nein entgegen.« (Wohnideen für den Altbau, S. 3)
Zeitschrift »Guter Rat« , Sonderheft »Mach was aus deiner Altbauwohnung« , um 1975, S. 1.
Die Altbauten galten als überkommene Zeugnisse der kapitalistischen, bourgeoisen Epoche, die langfristig durch moderne Neubauten zu ersetzen seien. Angesichts der resultierenden staatlichen Wohnungsbaupolitik blieben jahrzehntelang Investitionen in die Altbausubstanz aus. Der Großteil befand sich in marodem Zustand und war nicht auf der Höhe des Lebensstandards der Zeit.
Zusätzlich waren aufwendige Sanierungen aufgrund der niedrigen Mieteinnahmen auch für private Vermietungen unattraktiv. Die nötigen Modernisierungen blieben so weitestgehend aus. Neben abgenutzten oder beschädigten Decken und Dielen wurden viele Altbauwohnungen immer noch mit Kohleöfen beheizt, hatten häufig nur eine Toilette auf dem Treppenabsatz oder teilweise kein Badezimmer.
Zeitschrift »Wohnen im Altbau«, 1975, S. 40/41.
Entsprechend galt die Altbausubstanz aus Zeiten der Mietskasernen und Hinterhäuser des ausgehenden 19. Jahrhunderts als unhygienisch, lichtarm sowie feucht und stand für altertümliche Lebensverhältnisse – eine Wertung, die sich in der Nachkriegszeit genauso in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern findet.
In Anbetracht des allgemeinen Mangels an Wohnraum waren die betroffenen Wohnungen aber dennoch fast immer bewohnt. Besonders jungen Einzelpersonen oder unverheirateten Paaren wurde häufig nur mit mehrjähriger Wartezeit eine eigene Wohnung zugewiesen.
Während sich staatliche Maßnahmen gegen den nicht gedeckten Wohnbedarf in den 1960er-Jahren auf den Neubau von Plattenbauten beschränkten, wurden in den Altbauten deshalb marode Räume oder ungenutzte Dachgeschosse zu Wohnungen umgebaut. Auf diese Weise schufen sich kreative Bewohner*innen trotz Enge und ungünstiger Raumaufteilung unter hohem Eigenaufwand den eigenen Wohnraum.
Zeitschrift »Kultur im Heim« , Sonderheft »Wohnideen für den Altbau«, um 1973, S. 4/5.
Was für viele DDR-Bürger*innen also eine alltägliche Problematik war, geriet mit dem Amtsantritt Erich Honeckers als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED am 3. Mai 1971 nun verstärkt in das Blickfeld der Politik. Bereits seit ihrer Gründung versuchte die DDR stetig ihr Wohnraumproblem zu lösen, konzentrierte sich jedoch in den 50er- und 60er-Jahren fast ausschließlich auf Neubauten.
Im Rahmen der von Honecker deklarierten »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« verschob sich nun der Fokus staatlicher Maßnahmen weg von der Konkurrenzfähigkeit mit der westdeutschen Wirtschaft hin zum Versuch zur Steigerung des Lebensstandards im Inland. Im Zuge dessen wurden auch der Mangel an Wohnungen und der schlechte Zustand der Altbausubstanz als »soziales Problem« wahrgenommen.
Zeitschrift »Wohnen im Altbau«, 1975, S. 8/9.
Als Folge wurde auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 die Bereitstellung von 500.000 Wohnungen im Zeitraum von 1971 bis 1975 als Ziel formuliert, davon 387.000 Wohnungen durch Neubau und 113.000 durch Modernisierung, Um- bzw. Ausbau von Altbauten.
Bei letzterem wurde vor allem auf die Eigeninitiative der Bürger*innen gesetzt. So übernahm der Staat zum Teil Materialkosten für Umbauten und die Kosten für von Handwerkerfirmen ausgeführte Arbeiten, wie z.B. Elektroinstallationen.
Werkzeuge konnten kostenfrei in den Reparaturstützpunkten der kommunalen Wohnungsverwaltung ausgeliehen und die von den Privatleuten in der Freizeit geleisteten Arbeitsstunden anteilig entlohnt werden. Zudem wurden günstige Kredite für junge Ehepaare bereitgestellt.
Ines Rautenberg / Jürgen Schulz: »Besseres Wohnen in Altbauten«, 1975, S. 110/111.
Diese neue Wohnungspolitik findet im Verlauf der 70er-Jahre ihre Entsprechung in mehreren Sonderheften bekannter Zeitschriften wie »Kultur im Heim« oder »Guter Rat«. Unter Titeln wie »Mach was aus deiner Altbauwohnung« oder »Wohnideen für den Altbau« werden verschiedene Möglichkeiten beschrieben, mit der maroden Altbausubstanz umzugehen.
Mehrfach wird beschrieben, wie junge Paare, Familien oder sogar eine FDJ-Betriebsgruppe beispielsweise einen Dachboden, ein ehemaliges Ladengeschäft oder ein ganzes Hinterhaus durch Fleiß und vielseitige Lösungen zu einer beschaulichen Wohnung umbaut. Der Fokus liegt dabei meist auf kreativen Ideen zur platzsparenden Nutzung beengter Räume sowie auf billigen, materialsparenden Konstruktionen.
Zeitschrift »Guter Rat« – Sonderheft »Mach was aus deiner Altbauwohnung«, um 1975, S. 8/9.
Es finden sich außerdem detaillierte Übersichten über die Vor- und Nachteile verschiedener Baumateralien sowie Anleitungen für selbstgebaute, an die Raumverhältnisse angepasste Möbel. Auffällig ist dabei, wie die entstandenen Räume als hell, fröhlich und vor allem geräumig gelobt werden, auch wenn die abgebildeten Bilder dies nicht immer erkennen lassen.
Zeitschrift »Kultur im Heim« – Sonderheft »Wohnideen für den Altbau«, um 1973, S. 32/3.
Auch dass die Aus- und Umbauten nicht nur aus reiner Lust am Basteln, sondern vielleicht ebenso aus Mangel an anderem Wohnraum vorgenommen wurden, findet keine Erwähnung. Die kreative Gestaltung der in Eigeninitiative erneuerten Innenräume wird explizit gegenüber der baufälligen Erscheinung nach außen aufgewertet:
»Wer sich die Mühe macht, einen Altbau auf Herz und Nieren zu prüfen, darf nicht bei Äußerlichkeiten stehenbleiben. Man muss hinter die Fassade blicken. Mag auch hier und da der Putz abbröckeln, wie’s drinnen aussieht, darauf kommt es an.« (Mach was aus deiner Altbauwohnung, S. 1)
In den Beschreibungen der entstandenen Wohnungen dominieren Worte wie großzügig, freundlich, fantasievoll, gemütlich, praktisch, und frisch. Die Wohnungen zeichnen sich laut Erläuterungen weiterhin durch Helle, Heiterkeit, leuchtende Farben, fröhliche Leute oder eine junge, fröhliche Atmosphäre aus.
Zeitschrift »Wohnen im Altbau«, 1975, S. 22/23.
Es muss jedoch auch betont werden, dass die gezeigten Lösungen in puncto Einfallsreichtum sowie der Einrichtung und Gestaltung der Räume heutigen vergleichbaren Darstellungen des Selbermachens, wie sie z.B. in sozialen Medien wie Pinterest oder Instagram geteilt werden, in nichts nachstehen.
Das Selbermachen, gerade was auch komplexe handwerkliche Arbeiten betrifft, hatte in der DDR von Beginn an Tradition. Funktionale, materialsparende und wenig aufwendige Lösungen zu finden war Teil ihrer Kultur und nicht lediglich ökonomischen Mangelerscheinungen geschuldet.
Vielmehr wurde die Eigeninitiative bei der Erhaltung und dem Ausbau von Wohnraum auch politisch aufgeladen und galt als »Ausdruck der neuen sich entwickelnden Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrem sozialistischen Staat.« (Praktikus 1975, S. 13f.)
Über viele Jahre hinweg vielfach aufgelegte Bücher wie »Praktikus – Anleitung zur Selbsthilfe« oder »Du und deine Wohnung – Handwerker-Tipps« gaben detaillierte Anweisungen zur Instandhaltung, Ausbesserung und Konstruktion von Wohnraum.
Zeitschrift »Guter Rat« – Sonderheft »Mach was aus deiner Altbauwohnung«, um 1975, S. 36/37.
Jedoch verweisen auch diese beiden Publikationen in den Vorwörtern zu ihren Auflagen von 1974/75 explizit auf das auf dem VIII. Parteitag beschlossene neue Wohnungsbauprogramm – genauso wie Einrichtungs- und Handwerker-Ratgeber »Besseres Wohnen in Altbauten – Anregungen für Einrichtung und Umbau« von 1974, welcher das Thema Selbermachen beim Modernisieren von Altbauten explizit aufgreift.
Im Rahmen der staatlichen Wohnungsbaupolitik erscheint damit der kreative, selbstwirksame Eigensinn des Selbermachens als eine von staatlicher Seite initiierte Maßnahme. Wenn dafür geworben wird, »ungünstige Wohnproportionen« mit »sehr persönlicher Wohnatmosphäre« (Wohnen im Altbau, S. 8) aufzulockern, wird damit überspielt, dass die eingesetzten staatlichen Mittel nicht zur Lösung des Wohnungsproblems ausreichten.
Auch die Kultur des Selbermachens muss im Fall der Altbausanierung in den Kontext des allgemeinen Mangels an Baufacharbeitern bzw. -arbeiterinnen und Handwerkern bzw. Handwerkerinnen mit den nötigen Fähigkeiten betrachtet werden. Ebenso vollzog sich die Tendenz, geschenkte oder billig erworbene Möbelstücke zu »veredeln« (Wohnideen, S. 10) – auch vor dem Hintergrund allgemeiner Waren- und Materialknappheit.
Zeitschrift »Wohnen im Altbau«, 1975, S. 14/15.
Der politische Anspruch ging allerdings darüber hinaus, durch die Eigeninitiative der Bürger*innen die staatlichen Baukapazitäten zu entlasten. Besonders Fragen der Farbgestaltung und der Raumkomposition wirken aufgeladen. Einfach nur passiv eine Wohnung ohne gesamtheitliches Konzept zu bewohnen, reichte nicht aus. Die Vorstellung eines »Neuen Menschen« des Sozialismus erforderte vielmehr einen in hohem Maße gestalterischen Ansatz:
»Der Mensch setzt sich schöpferisch mit dem Raum und seiner Ausstattung auseinander. [...] Die Zuordnung der Dinge zu Farbe, Raumproportion, Licht und Zweckgebundenheit erscheint wichtig und unerläßlich, um letztlich eine befriedigende und harmonische Wirkung zu erreichen. Wohnen ist heute ein aktiver Zustand!« (Wohnideen, S. 22)
Zeitschrift »Kultur im Heim« – Sonderheft »Wohnideen für den Altbau«, um 1973, S. 22/23.
Wer von diesem hohen Anspruch und den vielen zu treffenden Entscheidungen bei der Einrichtung überfordert war, konnte sich aber zum Glück beraten lassen:
»Die Farbgestaltung und die Beleuchtung, die Dekostoffe, die Möbel und vieles andere spielen eine Rolle bei der Gestaltung einer funktionell und ästhetisch gut geordneten gegenständlichen Umwelt, in der unsere Lebensfreude gehoben wird. Allen, denen es schwer fällt, die vielen Einzelprobleme zu einem Ganzen zu ordnen, stehen Ratgeber zur Seite: die Fachleute in den Wohnberatungen.« (Wohnideen, S. 49)
Zeitschrift »Kultur im Heim« – Sonderheft »Wohnideen für den Altbau«, um 1973, S. 32/33.
Trotz dieser herausfordernden Bedingungen, die viel mehr Aufwand erforderten und weniger Komfort boten als das Wohnen im Plattenbau, entwickelte sich das Leben im Altbau zu einer beliebten Wohnform. Denn im Gegensatz zu den standardisierten Wohnungen der Plattenbauweise boten die individuellen Grundrisse und der hohe Renovierungsbedarf der Altbauwohnungen zahlreiche Möglichkeiten zur Gestaltung.
Die entsprechende Ratgeberliteratur der 1970er-Jahre ermutigte dabei die Bewohnern*innen, kreativ und selbstbestimmt eigene Konzepte der Wohnungseinrichtung zu verwirklichen.