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Wiebke Janssen: SED und Jugend in den fünfziger Jahren

Mit Sorge sah die SED, dass die Jugend Ende der 50er Jahre dem Rock `n´ Roll und der „viel zu körperbetonten“ Niethose verfiel. Die sozialistische Erziehung stand vor der Herausforderung diese Halbstarken zu „neuen Menschen“ zu formen. Nur durch eine restriktive und repressive Jugendpolitik sah die Partei ihr Chance auf die erste Generation von „Republikkindern“ einzuwirken. (08.06.2017)

Janssen, Wiebke: „Heute tanzen alle jungen Leute, im Lipsi-Schritt, nur noch im Lipsi-Schritt...“ – SED und Jugend in den fünfziger Jahren, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, Heft 6 (1999), S. 58-74.

 

Wiebke Janssen absolvierte ein Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkskunde, 2009 promovierte sie zu der Verfolgung und Kriminalisierung von Halbstarken in der DDR. Derzeit leitet sie das Dokumentationszentrum am Moritzplatz in Magdeburg.

 

Mit Sorge sah die SED, dass die Jugend Ende der 50er Jahre dem Rock `n´ Roll und der „viel zu körperbetonten“ Niethose verfiel. Die sozialistische Erziehung stand vor der Herausforderung diese Halbstarken zu „neuen Menschen“ zu formen. Nur durch eine restriktive und repressive Jugendpolitik sah die Partei ihr Chance auf die erste Generation von „Republikkindern“ einzuwirken.

Janssen beschreibt in ihrem Aufsatz an Beispielen aus Halle und Dessau, wie die SED am Ende der 50er Jahre versuchte, ihre Vorstellungen einer sozialistischen Freizeitgestaltung in der Jugendkultur durchzusetzen. Der Lipsi, den sie im Titel erwähnt, ist nur eines von vielen Beispielen, wo die Partei in die freie Entfaltung des jugendlichen Selbstverständnisses eingreift. Der brave und steife Paartanz sollte die wilden Rock ´n` Roll-Schritte und die ebenso verpönte westliche Musik von Bill Haley oder Elvis Presley ersetzen, doch die Jugendkultur ließ sich nicht, wie erhofft, staatlich planen. Der staatlich verordnete Lipsi verschwand schnell in der Versenkung.

Anhand von Vorfällen in Dessau und Halle illustriert die Autorin das harte Vorgehen gegen nonkonformes, „auffälliges“ Verhalten, das weniger einer politischen Opposition, wie es die SED vermutete, geschuldet war, als vielmehr den üblichen pubertären Erscheinungen.

In Dessau sammelten sich 1958 immer wieder Jugendliche abends auf dem Friedensplatz und tanzten gemeinsam zu Musik aus Kofferradios Rock ´n´ Roll. Die Jugendlichen hatten sich lose organisiert, hatten einen „Boss“ und einen geringen Mitgliedsbeitrag, um gemeinsam Ausflüge und Besuche von Tanzveranstaltungen zu finanzieren. Auf Nachfrage gaben sie an, Judoübungen zu machen. Sie fielen außerdem dadurch auf, dass sie teilweise Passanten belästigten und kleinere Schlägereien stattfanden. Als dieselben Jugendlichen Veranstaltungen der FDJ in Dessau störten, nahm die Volkspolizei dies zum Anlass, die Gruppe aufzulösen. 16 wurden verhaftet, sieben beim MfS inhaftiert, vier Jugendliche in ein Heim eingewiesen. Insgesamt zählte die Volkspolizei 88 Mitglieder der „Rock ´n´ Roll-Bande“, die sich in einem öffentlichen Jugendforum zu einer „konterrevolutionären Tätigkeit“ bekennen mussten.

In Halle kam es ebenfalls zu einer Konfrontation von Volkspolizei und Jugendlichen auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Gefreiter der NVA und ein Jugendlicher waren in eine Schlägerei verwickelt, die sich auf 50-60 „Rowdys“, die gegen die Armee wetterten, ausweitete. Es kam zur Festnahme der beiden Auslöser der Schlägerei durch die Volkspolizei, wodurch ein Auflauf von hunderten Jugendlichen vor dem Dienstgebäude die Freilassung des Halbstarken forderte. Bei den folgenden Festnahmen stürzte ein Polizist so schwer, dass er kurze Zeit später im Krankenhaus verstarb. Dieser Umstand wurde zum Anlass für Hausdurchsuchungen und weitere Verhaftungen. Die Jugendlichen, die zum Teil nur als Schaulustige in den Krawall geraten waren, galten nun als Mitglieder einer „konterrevolutionären Gruppe mit westlichem Idol“. In manchen Fällen wurden die Jugendlichen nach einem öffentlichen Forum in die Obhut ihrer Eltern übergeben, die „über die Gefährlichkeit ihrer mangelhaften Erziehung“ (LA Merseburg, BDVP Halle, 19, Nr. 132, Bl. 224, zit. n. Janssen, S. 65.) aufgeklärt wurden. Jugendliche, die besonders aufgefallen waren bei Verhören oder deren Erziehung nicht gewährleistet schien, erwartete ein Prozess wegen Landfriedensbruch.

Der Kampf gegen die Tendenzen der Jugendkultur Ende der 50er Jahre war ein ideologischer Kampf gegen die amerikanische Lebensweise. Durch die Stigmatisierung der Jugendlichen als Halbstarke mit Nachteilen in Beruf, Schule und Familie sollte der westlichen Beeinflussung ein Ende gesetzt werden. Im Kontext der zweiten Berlin-Krise und der tatsächlichen Angst der Partei, dass es sich bei der einheitlichen Bekleidung (Niethosen mit Cowboystickereien auf den Hosentaschen und Emblemen amerikanischer Firmen), den Massenhysterien und der starken körperlichen Beteiligung beim Rock ´n´ Roll-Tanz um Formen der Zusammenrottung und psychologischen Kriegsführung - gelenkt durch den Westen - handeln könnte, war das Vorgehen umso repressiver. Doch die Freizeitmöglichkeiten der Jugendlichen waren einfach kulturell begrenzt, es fehlte an Jugendklubs und Alternativen zum Treffen auf Plätzen und in Einkaufsstraßen sowie an DDR-Musik, die das Lebensgefühl der Jugend widerspiegelte.

Öffentlich wurde jugendliches Fehlverhalten in diversen Jugendforen abgemahnt sowie Jugendliche an den Pranger gestellt und durch Volkspolizei, Stasi und FDJ-Ordnungsgruppen überwacht. Doch die staatlich gebotenen Alternativen in der Jugendkultur orientierten sich nicht an den Bedürfnissen der jungen Generation, so die Autorin, sodass es auch weiterhin nur durch Repression möglich war, Konformität zu erzwingen.

Ein äußerst spannender Aufsatz zur Jugendpolitik der SED und deren Vorgehen gegen nonkonformistisches Verhalten. Mit zahlreichen Quellen untermauert Janssen ihre Thesen und weckt Interesse noch mehr über das schwierige Verhältnis zwischen Jugend und DDR zu erfahren.

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