Was bleibt von der DDR?

Das Buchstabenportal der Berliner Stadtbibliothek

Die virtuelle Führung auf den Spuren der DDR-Relikte ging vom Marstall aus, lenkte die Aufmerksamkeit auf die bronzene Friedenstaube am Eingang zum Nikolaiviertel und geht nun in der Breiten Straße weiter, vorbei an den wenigen alten Häusern zum Neubau der Berliner Stadtbibliothek. Dort fällt das metallene Portal ins Auge.
von Dr. Stefan Wolle (15.11.2017)

Die Tür mit den gusseisernen Buchstaben lässt sich nur schwer öffnen. Wer es geschafft hat, ist gut beraten, schnell hindurch zu springen, damit ihm die schwere Eisentür nichts ins Kreuz schlägt. Das ist ungewöhnlich in einer Zeit, in der die Türen von Supermärkten und anderen Konsumtempeln lautlos und einladend auseinander schwingen. Nichts soll den Weg der schwer beladenen Konsumenten behindern. Dem DDR-Bürger wurde mehr abverlangt, jedenfalls wenn er sich auf den mühsamen Weg zu den Schatzkammern der Wissenschaft und Kunst begeben hatte. Er hatte dabei jede Menge Hindernisse zu überwinden. Ganze Bereiche der Literatur waren weggeschlossen. In der Universitätsbibliothek befand sich im Arbeitszimmer des Sicherheitsbeauftragten ein Panzerschrank, in dem sich alle Bücher befanden, die als staatsfeindlich oder unerwünscht klassifiziert worden waren. In der Staatsbibliothek existierte eine „Abteilung Spezielle Forschungsliteratur“ (ASF), die nur Auserwählte mit speziellen Zertifikaten betreten durften. Ein Student oder gar ein Normalbürger hatte natürlich keine Chance, den „Giftlesesaal“ zu nutzen. Auch sonst waren die Ausleihvorschriften sehr restriktiv. Schöngeistige Literatur durfte man nur gegen den Nachweis einer einschlägigen wissenschaftlichen Tätigkeit ausleihen. 

Bücherei für alle

Natürlich war auch in der Berliner Stadtbibliothek die „antikommunistische Hetzliteratur“ nicht frei zugänglich, doch die Chancen, literarische oder wissenschaftliche Werke aus der Zeit vor der DDR oder aus dem Westen zu bekommen, waren größer als anderswo. Die Ausleihpraxis war für DDR-Verhältnisse recht großzügig, die Ausstattung modern und besucherfreundliche. Auch Schallplatten und später Tonkassetten konnte man ausleihen und mit nach Hause nehmen. Die Bücherei  war bereits 1901 gegründet und 1907 im Alten Marstall eröffnet worden. Ihr Anspruch war von Anfang an, breite Kreise der Bevölkerung mit Lesestoff zu versorgen. Ab 1933 gab es erste Ausleihsperren, dann legte der Krieg den Betrieb lahm. Trotz der Bombenschäden wurde die Bibliothek 1945 wiedereröffnet und 1950 verfügte sie wieder über den Vorkriegsstand von 400.000 Bänden. Der Marstall wurde bald zu eng. 1960 entschied sich der Ostberliner Magistrat für eine sehr elegante Lösung. Der Alte Marstall in der Breiten Straße wurde restauriert, der Spreeflügel des Neuen Marstall ausgebaut. Ein neu errichteter dreistöckiger Bau verband die alten Gebäude und beherbergte das großzügige Foyer, die Ausleihzentrale, Lesesäle und Kataloge. 

117 mal A

Am 11. Oktober 1966 wurde die erweiterte Berliner Stadtbibliothek eröffnet. Der Neubau setzt sich mit einer gläsernen Fassade baulich bewusst von den historischen Gebäudeteilen ab. Der zentrale Blickfang war das im Februar 1967 fertiggestellte Eingangsportal. Es bestand aus 117 Varianten des Buchstaben A. Die Versionen reichen vom altphönizischen Aleph bis zur modernen Schreibmaschinentype. Vom Entwurf zur Ausführung erfolgte die Erstellung des Kunstwerks in der Werkstatt des Künstlers Fritz Kühn. Die A–Variationen wurden aus den Tafeln mit Spezialwerkzeugen herausgeschmiedet, im Schmiedefeuer mit Messing und Kupfer geschmiedet, farblich gestaltet oder vergoldet und zum Abschluss lasiert.

Der Metallgestalter und Metallbildhauer Fritz Kühn sagte über die Symbolkraft des Portals:

„Hinweisend auf den Sinn des ganzen Bauwerkes, das Besondere im Inneren des Hauses, wählte ich dazu den Anfangsbuchstaben des Alphabets, das A. Dabei ließ ich den vielen Möglichkeiten Raum, Eigenarten und Wandlungen im Laufe der Zeit und Sprache zu zeigen.“ 

Die völlig unterschiedlichen Schrifttypen aus allen Kulturen der Welt standen und stehen symbolisch für die Vielfalt und den Reichtum der Bücherschätze. Zugleich verbinden sie die Sprachen der Welt. Denn alle bekannten Alphabete beginnen mit dem A, dem ersten Laut, den kleine Kinder zu artikulieren vermögen. 

Der schwere Weg zum Wissen

Für Kunst am Bau investierte die DDR trotz klammer Kassen viel Geld. Die Kunstwerke sollten eine spezielle sozialistische Note in die ansonsten sehr funktionale Architektur bringen, die sich wenig vom internationalen Modernismus unterschied. Oft zierten dann Proletariergestalten und die ewig gleichen Bartgesichter der Klassiker des Marxismus-Leninismus die Gebäude. Ganz anders Fritz Kühn. Er schuf für die Stadtbibliothek ein zeitlos gültiges Kunstwerk. Das Gebäude ist nun Teil der Zentral- und Landesbibliothek (ZLB). Die alten Zettelkataloge sind verschwunden, mit der Hand ausgefüllte Leihscheine gehören der Vergangenheit an. Auch die Mitarbeiterinnen, die die Mahngebühren eintrieben, sind durch Automaten ersetzt. Die Bibliothekarinnen ließen sich erweichen, die Computer sind unerbittlich. Geblieben sind die Eingangstüren mit den in Metall geschmiedeten Buchstaben. Sie erinnern daran, wie schwer der Weg zum Wissen auch im digitalen Zeitalter ist. 

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