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„Stasiratte“

Dieser Begriff ist verletzend und niemand hört ihn gern, erst recht, wenn er auf die eigene Person gemünzt ist. Doch meist ist die ohnmächtige Frustration, die hinter solch einer Aussage steckt, auch sehr gut nachvollziehbar. Wenn man zum Beispiel nach Jahrzehnten erfährt, dass eine Kollegin und enge Freundin, ein Mensch, den man vertrauensvoll in sein Leben gelassen hat, ein „Spitzel" war.
(06.11.2012)

Dieser Begriff ist verletzend und niemand hört ihn gern, erst recht, wenn er auf die eigene Person gemünzt ist. Doch meist ist die ohnmächtige Frustration, die hinter solch einer Aussage steckt, auch sehr gut nachvollziehbar. Wenn man zum Beispiel nach Jahrzehnten erfährt, dass eine Kollegin und enge Freundin, ein Mensch, den man vertrauensvoll in sein Leben gelassen hat, ein „Spitzel" war.

Dieses Buch beginnt mit der Beschreibung einer Frau, die unruhig Zuhause auf den Beginn einer Gerichtsverhandlung wartet. Es wird beschrieben, wie schlecht sie sich fühlt, wie aufgewühlt sie ist, wie sehr ihr vor diesem Termin graut - denn der „Beklagte" war einst ein enger Freund und Kollege, den sie sehr schätzte.

Auf den folgenden Seiten und Kapiteln erzählt sie, wie es zu diesem Gerichtstermin kam und von ihrem Leben in und mit der DDR. Der Anfang liegt im ehemaligen noblen „Spreehotel", wo die Autorin als Jugendliche eine heiß begehrte Anstellung findet. Und eben auch dem bewussten Kollegen begegnet, der ihr zeigt, wie sie sich als Kellnerin in der berühmten Kristallbar des Hotels zu Recht finden kann.
Sie ist jung, unbedarft und übersieht, die Konsequenzen bis zum Schluss zu durchdenken. Zufall kombiniert sich mit falschen Ratschlägen. Jugendlicher Leichtsinn paart sich mit Neugierde, Abenteuerlust und einer gewissen Naivität - und so tappt sie in die „Stasi-Falle". Mit blumigen Worten wird ihr eingeredet, praktisch nur sie könne einen fiktiven Drogenhandel im Hotel unterbinden und so allen Mitbürgern helfen. Schließlich findet sie sich immer wieder in „konspirativen" Wohnungen zu treffen mit „ihrem" stets freundlichen Führungsoffizier wieder. „Erzähl doch mal", „Schreib das doch einfach kurz auf". Als Sprössling einer Familie die das System ablehnt (zum Beispiel prinzipiell nur West-Fernsehen schaut) und als Mensch, dem es von Grund auf zuwider ist, Gerüchte in die Welt zu setzen oder überhaupt schlecht von Bekannten zu sprechen, füllt sie ihr „Protokoll" pro forma also nahezu immer mit Sätzen, die von Zufriedenheit in der DDR und „Helden der Arbeiterklasse" künden. Nur ein einziges Mal erliegt sie kurz vor dem Mauerfall der Versuchung: Sie diskreditiert bewusst eine verhasste neue Kollegin, die dann auch prompt kurze Zeit später ihren Job verliert. Ihr Protokoll über jenen Freund hingegen ist stets in diesem positiven Duktus verfasst.

Dieser erhält viele Jahre später Einsicht in seine Stasi-Akte und stößt dort auch auf die Unterlagen über und von seiner ehemaligen Kollegin. Zunächst schreibt er ihr einen wütenden Brief, in dem er von seinem Vorhaben spricht, seine Akte zu publizieren. Und droht ihr indirekt, denn das vorläufige Skript sieht auch Fotos der „Stasi-Ratten" vor, damals und heute, sowie Bilder dieser Personen vor ihren Häusern und bei bzw. vor dem jetzigen Arbeitsplatz. Die Protagonistin fürchtet also öffentliche Demütigung.

Als sie auf diesen Brief nicht reagiert, beginnen die Karten-Sendungen. Jeden Monat erhält sie eine Postkarte, als Motiv die DDR-Fahne und beschriftet immer mit demselben Wortlaut: „Meinem Stasispitzel einen Februargruß" - zum Beispiel. Über ein Jahr lang. Diese Karten beeinflussen ihr Leben immer mehr, bis sie anfängt, jeden Gang zum Briefkasten zu fürchten, meint, abfällige Blicke der Postbotin und der Nachbaren zu spüren. Schließlich überwindet sie aus purer Verzweiflung ihre Angst. Zerfressen von Schamgefühl beichtet sie ihre Stasi-Vergangenheit zunächst ihrem Ehemann, der aus dem Westen stammt. Er ist Anwalt und hilft ihr nach anfänglichem Schock bei der Einreichung einer Klage auf Einstellung der Sendungen. Dies ist schlussendlich besagter Gerichtstermin, mit dem das Buch beginnt.

Die Mauer fiel nur wenige Monate nach meiner Geburt. Bewusst erlebt habe ich die DDR also nicht. Erst recht nicht die Stasi. Meine Eltern lebten jedoch beide in der DDR und geben immer wieder Anekdoten und Erfahrungen wieder. Ich habe also, wenn auch nicht direkt, so doch von klein auf verschiedene Eindrücke die DDR betreffend gewonnen. Nur von der Stasi habe ich - klar - gehört, aber kenne niemanden der davon betroffen war. Umso spannender war es für mich, dieses Buch zu lesen und zu erleben, in dem von derselben Person gleichzeitig aus Täter- und Opfer-Sicht berichtet wird.

Die Autorin schafft es, glaubhaft ihre damaligen Beweggründe für die Mitarbeit zu schildern. Und als Leser kann man daher die Umstände, die dorthin führten, gut nachvollziehen. Doch ist sie sich auch ihrer ganzen Schuld bewusst und kehrt ihre falsche Entscheidung und die Konsequenz nicht unter den Teppich. Man fühlt mit ihr, so oder so.

Alles in allem ist es ein spannendes, sehr interessantes Buch, in dem man die Berlinerin in der Autorin schon auf den ersten Seiten rausliest. Gut geschrieben, nicht einseitig - die Geschichte einer Inoffiziellen Mitarbeiterin, die berührt aber trotz allem die individuelle Schuld thematisiert.



Eine Rezension von Viola Behrendt, der Direktionsassistentin des DDR Museums, einer begeisterten Leserin und Ihrer Ansprechpartnerin für unseren Shop.

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