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"Disziplinierung durch Medizin" von Florian Steger und Maximilian Schochow

Unser heutiger Schatz aus der Bibliothek ist ein Neuzugang, der in erster Auflage gerade im September letzten Jahres erschien und nun bereits in 3. Auflage vorliegt. Dies spiegelt deutlich das Interesse wider, auf das dieses Thema stößt. Das vorliegende Buch reflektiert den aktuellen Stand der Forschungsarbeit zur Geschichte der geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR, exemplarisch am Beispiel der Poliklinik Mitte in Halle (Saale).
(03.03.2015)

Unser heutiger Schatz aus der Bibliothek ist ein Neuzugang, der in erster Auflage gerade im September letzten Jahres erschien und nun bereits in 3. Auflage vorliegt. Dies spiegelt deutlich das Interesse wider, auf das dieses Thema stößt. Das vorliegende Buch reflektiert den aktuellen Stand der Forschungsarbeit zur Geschichte der geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR, exemplarisch am Beispiel der Poliklinik Mitte in Halle (Saale).

Dieser Band gibt erstmals den Mädchen und Frauen eine Stimme, die in der Zeit zwischen 1961 bis 1982 in der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) zwangsweise medizinisch behandelt wurden. Neben umfangreicher Archivarbeit bis hin zu den Bauakten, haben die Verfasser nicht nur mit Patientinnen, sondern auch mit Ärzten, Famulanten, Praktikanten, Pflegepersonal, Krankenschwestern, Verwaltungsangestellten und Polizisten gesprochen. Durch den Blick auf vergleichbare Einrichtungen sowie die Zeitzeugengespräche, die aus verschiedenen Blickwinkeln berichten, haben sie eine belastbare Vergleichsperspektive hergestellt.

In den geschlossenen Venerologischen Stationen (im Volksmund kurz "Tripperburg") sollten offiziell geschlechtskranke und "asoziale" Personen ab dem 12. Lebensjahr medizinisch behandelt und durch erzieherische Einwirkung zu einer "sozialistischen Persönlichkeit" erzogen werden. Leider nicht selten jedoch wurden Frauen und z.T. sehr junge Mädchen willkürlich zwangseingeliefert. So wurden sie "durch die (Transport-)Polizei wegen "Rumtreiberei" auf Bahnhöfen aufgegriffen und unter Missachtung der "Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten" direkt in die geschlossene Venerologische Station eingeliefert. Darüber hinaus übergaben der Jugendwerkhof, Erziehungsheime, aber auch Eltern ihre Töchter der geschlossenen Venerologischen Station, wenn sie mit ihren Kindern nicht zurechtkamen." (vgl. S. 172) Auf diesen Stationen wurde ohne Aufklärung und Einverständnis der Patientinnen sowie teilweise ohne jegliche medizinische Indikation in die körperliche Integrität der Mädchen und Frauen eingegriffen. Übereinstimmend wird von täglichen schmerzhaften und demütigenden gynäkologischen Untersuchungen berichtet, bei denen weder Rücksicht auf das Alter der Patientinnen genommen, noch im Vorfeld geprüft wurde, ob die Patientinnen tatsächlich bereits sexuelle Kontakte hatten. Häufig lag für die Untersuchung keine medizinische Indikation, kein tatsächlicher körperlicher Befund vor. Auch wird von allen Beteiligten von regelmäßigen sog. Fieberspritzen berichtet, die ein Provokationsmittel enthielten, das zum Triggern von Infektionskrankheiten eingesetzt wurde und oft z.T. schwere Nebenwirkungen (bis hin zu Sterilisation und sogar Tod in mindestens je einem Fall) nach sich zogen. Auch hier fand keinerlei Aufklärung oder Vorwarnung statt.

Auf der Station herrschte ein hierarchisches Terrorsystem, das durch die Hausordnung bestimmt und von Ärzten, Schwestern und Stubenältesten umgesetzt wurde. So gab es häufige Strafen bspw. in Form von 24 Stunden Isolation, Nachtruhe außerhalb des Bettes auf einem Hocker, Schlaf-, Nahrungs- oder Zigarettenentzug.

Die Autoren haben sich bewusst dafür entschieden, viele Zitate aus den anonymisierten, narrativ geführten Interviews abzudrucken, da diese oft für sich selbst sprechen. Entstanden ist ein erschütterndes Werk über die Venerologische Stationen und auch die Rahmenbedingungen (bspw. die Zuführung), die systematisch nicht nur die Gesetze der DDR, sondern auch die Menschenwürde verletzten. Das Buch "Disziplinierung durch Medizin" bietet erstmals einen umfassenden Bericht über den "Organisatorischen, institutionellen und rechtlichen Hintergrund" (Überschrift Kapitel 2), über "Aufbau, Funktion, Personal und die Patientinnen" (Überschrift Kapitel 3), den "Alltag, Terror und Widerstand" (Überschrift Kapitel 4) sowie schließlich über "Die geschlossenen Venerologische Station in Halle (Saale) im Spannungsfeld von Politik und anderen geschlossenen Stationen" (Überschrift Kapitel 5).

"Disziplinierung druch Medizin - Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961-1982" von Dr. Florian Steger und Maximilian Schochow ist in 3. Auflage im Januar 2015 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) innerhalb der Studienreihe der LStU Sachsen-Anhalt erschienen. Es hat die ISBN 978-3-95462-351-8 und ist für nur 12,95 € erhältlich.

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